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Nach Messerattacke: Gedenken an Solingen-Anschlag - Von Versagen und Handeln

Stern 

Der NRW-Landtag sucht Antworten aus der tödlichen Messerattacke von Solingen. Die Opposition wirft Schwarz-Grün in NRW Versagen vor. Innenminister Herbert Reul macht eine klare Ansage.

Eine Woche nach der tödlichen Messerattacke von Solingen hält der Landtag in Nordrhein-Westfalen einen Augenblick inne. Die Abgeordneten erheben sich für eine Schweigeminute, auf der Tribüne sitzen Ersthelfer- und helferinnen, die in den Minuten nach dem Anschlag im Chaos Blut und sterbende Menschen sahen. "Wir verneigen uns vor Ihnen", sagt Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU). Die Retter bekommen immer wieder in der zweistündigen Sondersitzung Applaus für ihren Einsatz, bei dem sie am vergangenen Freitagabend an ihre Grenzen gingen.

"Dieser Akt des Terrors ist ein Wendepunkt", sagte Wüst. Der Anschlag habe das Land mitten ins Herz getroffen. Dann geht das Parlament zur politischen Aufarbeitung des mutmaßlich islamistischen Anschlags über, bei dem der Angreifer auf einem Stadtfest drei Menschen durch Messerstiche tötete und acht weiter verletzte. Während Wüst schärfere Konsequenzen fordert als nur das eilig vorgelegte Sicherheitspaket der Ampel in Berlin, wirft die Opposition der schwarz-grünen Landesregierung in NRW Versagen vor.

Den richtigen Ton treffen

Wüst mahnt einen "angemessenen Umgang" mit der jetzt aufkommenden Asyl- und Migrationsdebatte an. "Ein Überbieten bei den Forderungen darf kein Selbstzweck sein", sagte er. "Der richtige Ton bei der Frage der Konsequenzen wird für Zustimmung bei den Menschen sorgen", so der CDU-Politiker. In zwei Tagen wird in Thüringen und Sachsen gewählt. Die Befürchtungen vor einem weiteren Erstarken der AfD sind groß.

Dennoch müssten nun Taten folgen, sagt Wüst. Das individuelle Recht auf Asyl bleibe in Deutschland gewahrt und werde nicht in Zweifel gestellt, betont er. Hunderttausende Menschen, die nach Deutschland gekommen seien, hätten aber kein Recht auf Asyl. 

Unterstützung für Grünen-Ministerin

Der seit Tagen unter Rechtfertigungsdruck stehenden Grünen-Flüchtlingsministerin Josefine Paul stärkt der Regierungschef den Rücken. "Ich bin dankbar, dass Ministerin Josefine Paul den Sachstand umfassend gegenüber Parlament und Öffentlichkeit berichtet hat", sagte Wüst in einer Sondersitzung des Landtags. "Sie hat bereits erste Versäumnisse benannt und zugleich Verbesserung veranlasst." 

Zugleich sichert Wüst "maximale Transparenz" bei der Aufklärung möglicher Fehler zu. Es dürften aber keine Behördenmitarbeiter, die seit Jahren gerade in den Kommunen am Limit arbeiteten, für den Anschlag verantwortlich gemacht werden. "Die Ursachen des Problems werden wir nicht in den Ausländerbehörden lösen oder vor Ort wegverwalten können." Der Bund sei in eigener Verantwortung und in Europa gefordert, bei der Frage der irregulären Migration endlich zu wirksamen Lösungen zu kommen. 

SPD sieht Versagen bei Schwarz-Grün

Der festgenommene mutmaßliche Täter von Solingen, der 26-jährige Syrer Issa Al H., war Ende 2022 über Bulgarien nach Deutschland gekommen und hätte nach den sogenannten Dublin-Asylregeln eigentlich schon vergangenes Jahr dorthin zurückgebracht werden müssen. Dies geschah jedoch nicht, weil der Mann am vorgesehenen Tag im Juni 2023 nicht in der Paderborner Landeseinrichtung angetroffen wurde. Am Tag vorher und am nächsten Tag war er allerdings zum Mittagessen wieder da. Darüber hatte die Einrichtung aber nicht die Zentrale Ausländerbehörde informiert und es wurde auch keine neue Flugbuchung unternommen. 

"Es ist das Abschiebemanagement dieser Regierung, das nicht funktioniert hatte", sagt SPD-Oppositionsführer Jochen Ott. Er erwarte nun "mehr Selbstkritik und keine Ausflüchte". Abschiebung sei Aufgabe der Länder. "Und Ihre Regierung war nicht in der Lage, nach Bulgarien, einem EU-Land abzuschieben", sagt Ott in Richtung Wüst. "Und sie hatten damit auch die Verantwortung." Die Forderung der SPD nach einem Sonderermittler zur schnelleren Aufarbeitung des Terroranschlags weist die CDU umgehend zurück. Aber die schwarz-grüne Koalition hat in Eigeninitiative bereits einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss vorgeschlagen. 

Paul traf Ersthelfer

Flüchtlingsministerin Paul macht für die gescheiterte rechtzeitige Abschiebung des Tatverdächtigen erneut Defizite bei den Verfahren der EU-Überstellungen verantwortlich, findet aber diesmal auch emotionalere Worte. Sie habe die Ersthelfer vor Beginn der Sitzung getroffen, sagt Paul und dankt ihnen für einen "schier übermenschlichen Einsatz". Die Grünen-Ministerin war dafür kritisiert worden, nicht wie etwa Reul sofort nach dem Anschlag nach Solingen gefahren zu sein. 

Paul verspricht: "Wir werden weiter im vorliegenden Fall alle Steine umdrehen, auch in unserer Landesverantwortlichkeit, die Systeme weiter besser aufzustellen." Tatsache sei aber auch, dass gescheiterte Überstellungen abgelehnter Asylbewerber in die EU-Staaten, in die sie zuerst eingereist waren, eher die Regel als die Ausnahme seien, bekräftigt sie. Grünen-Fraktionschefin Verena Schäffer springt Paul bei: "Was ganz Europa bei der Verteilung von Geflüchteten über Jahre nicht hinbekommt, kann man einer nordrhein-westfälischen Ministerin wohl kaum zum Vorwurf machen."

Konsequenter abschieben

Die FDP forderte konsequentere Abschiebungen. "Wir müssen das Instrument der Abschiebehaft auch wirklich konsequent nutzen", sagt FDP-Fraktionschef Henning Höne. NRW brauche eine zweite Abschiebehaftanstalt - am besten in der Nähe des Düsseldorfer Flughafens. Menschen mit geringer Bleibeperspektive sollten zudem nicht mehr direkt auf die Kommunen verteilt werden. AfD-Fraktionschef Martin Vincentz fordert mehr Härte und nicht "rhetorische Platzpatronen gegen erbarmungslosen Terrorismus".

Reul kritisiert politische Hetze

In Solingen rief die Stadt die Menschen dazu auf, am Freitagabend als Zeichen der Trauer und Solidarität zur Tatzeit um 21.37 Uhr eine Kerze zu entzünden und ins Fenster zu stellen. Innenminister Herbert Reul (CDU) war noch in der Tatnacht nach Solingen geeilt. Die Bilder werde er niemals vergessen: den menschenleeren Platz, die leere Bühne, die erschöpften Helferinnen und Helfer überall - und die Toten auf dem Platz. Er sei ja schon etwas älter, sagt der 71-jährige langjährige Politiker. Aber diese politische Debatte verstehe er jetzt nicht mehr und wolle sie auch nicht mehr mitmachen: "Dieses Gehetze und Geschimpfe und Verantwortlichkeiten suchen, ohne auch am Ende einen Schritt nur weiterzukommen". 

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