World News

Alli Neumann: "Ich bin gern anders"

Alli Neumann:

Die Sängerin Alli Neumann hat viele Ängste. Sie verarbeitet ihre Gefühle in der Musik und spricht darüber, warum Angst neue Perspektiven öffnet. In Zeiten von Kriegen, Rechtsruck und Klimawandel schleicht sich das Gefühl der Angst immer mehr in den Alltag vieler Menschen. Prominente Persönlichkeiten beantworten in der Serie "Wovor haben Sie Angst, …?" die Frage nach dem furchtbarsten aller Gefühle, suchen Ursachen und Wege, mit ihr umzugehen. Alli Neumann, Sängerin und Schauspielerin "Heute Morgen hörte ich Menschen vor meiner Wohnungstür. Ich hatte Angst, dass es die Hausverwaltung sein könnte. Ich tat so, als sei ich nicht da. Dreimal hat es geklingelt, aber ich wollte nicht aufmachen. Ich versuchte, so leise wie möglich zu sein, nicht zu atmen – dabei habe ich die ganze Zeit gehört, wie sie vor der Tür standen. An solche kleinen Ängste kann ich mich aber seltener erinnern, weil das Thema Angst gerade anders belegt ist. Die letzten Tage hatte ich vor allem Angst um Angehörige, Freunde und Bekannte. Ich habe sehr große Angst vor dem Klimawandel, seinen Folgen für die Menschheit und davor, dass wir hier alle bald nicht mehr leben können. Ich habe Angst, dass sich der Rechtsruck in vielen Ländern fortsetzt und die Demokratie gefährdet. Ängste tanzen Hand in Hand Als Frau, die in der Öffentlichkeit steht, habe ich auch sehr große Angst davor, älter zu werden. Wir leben in einer Gesellschaft mit wenig Platz für ältere Menschen. Wir gehen nicht gut mit älteren Menschen um. Ich finde es unfassbar, dass man das ganze Leben lang arbeitet und später in einem Doppelzimmer im Altersheim unter sehr schlechten Bedingungen endet. Ich habe ganz schön viel Angst und kann meine Ängste nicht abwägen. Sie tanzen Hand in Hand. Wenn ich mein eigenes Verhalten reflektiere, habe ich manchmal Angst vorm Alleinsein und denke: Wer will das aushalten? Darüber mache ich mir aber seltener Sorgen, weil ich drei Schwestern habe. Schwesternschaft kann man offiziell nicht kündigen. An Angst kann man sich gewöhnen. Es geht darum, die Angst umzudeuten. Man kann versuchen, sie nicht mehr nur als Problem zu sehen – sondern als Beraterin, die ihre Berechtigung hat. Ich schaue mir genau an, was die Angst in mir auslöst. Es sind nicht wirklich Monster unter dem Bett, vor denen ich mich fürchte. Angst ist ein Teil von mir, den ich versuche zurückzuhalten oder der Wut auslöst. Sie kann unverhältnismäßig viel Zerstörung anrichten, obwohl sie gar nicht auf realen Tatsachen basiert. Keine Angst davor, anders zu sein? Ich bin gern anders und habe dabei einerseits das Gefühl, mich von den Ängsten davor zu befreien, gesellschaftlich ausgeschlossen zu werden. Auf der anderen Seite bin ich der größte People Pleaser. Wenn ich denke, ich bin jemandem auf den Schlips getreten, könnte ich direkt weinen. Ich weiß heute noch Dinge, die ich in der Schule zu jemandem gesagt habe, die falsch waren. Wenn ich einen Streit anfange, weil ich mich ungeliebt und ungesehen fühle, überlege ich heute öfter, wie ich meine Bedürfnisse kommunizieren kann, anstatt unübersetzt anderen Leuten und mir selbst meine Angst in die Fresse zu ballern. Angst als Motor Man sollte Angst zulassen und versuchen, sie zu ergründen, um mehr aus ihr zu ziehen als nur ein ungutes Gefühl. Das ist lediglich die schlechte Seite von Angst. Die gute Seite von Angst ist, dass sie dir sagt, etwas ist nicht richtig, ist nicht genug, ist gefährlich. Ich versuche, Angst immer als Motor anzunehmen. Klar kann ich bei der Angst vor Weltschmerz sagen: Alles ist gruselig. Aber ich kann auch fragen: Was macht mir Angst? Wie kann ich dagegen angehen und was kann ich konkret machen? Womit sollte ich mich mehr beschäftigen? Das ist empowernd. Wenn ich Angst habe, denke ich oft, dass ich damit bestimmt nicht die Einzige bin. Diese Angst haben andere Menschen auch. Im besten Fall kann ich das Gefühl in meiner Musik verarbeiten und eine andere Perspektive auf die Thematik entwickeln. "Blue" ist eigentlich ein Trennungslied: Darin steckt viel Schmerz und Trauer. Nach einer Trennung – oder auch in einer toxischen Beziehung – hat man oft Angst davor, was danach kommt. Ich wollte deshalb ein Lied schreiben, das daran erinnert, dass es immer einen Weg gibt, abzuschließen. Bei mir ist das beim Feiern gewesen. Ich habe gemerkt, dass die Entscheidung, die ich für mich getroffen habe, gut ist und kann die neue Freiheit genießen. Manchmal ist Angst aber nur unterbewusst und ich entscheide Dinge wegen ihr anders. Es findet eine Art Konversion statt, wie bei Freud: Ich bekomme Bauchschmerzen , statt Dinge wirklich zu verarbeiten. Ich habe nichts gegen Angst. Trotzdem bin die ganze Zeit erschöpft davon, sie auszugleichen. Angst ist zwar eine gute Beraterin, aber keine gute Chefin." Anmerkung der Redaktion: Das Gespräch mit Alli Neumann wurde unmittelbar nach dem Angriff der Hamas auf Israel geführt.

Читайте на 123ru.net