Kommentar: Canterano-Schwund, unehrliche Gründe und ein zu gnädiges Real
Also nee, Leute. Ich habe jetzt eine Nacht darüber geschlafen, und ich aufgrund des Textes nicht durchgehend geschlafen. Und ich muss das jetzt los werden. Und mal wieder den meckernden Moralapostel raus lassen. Als hätten mich die sich anbahnenden Wechsel von Nacho Fernández und Joselu nicht schon länger beschäftigt, und das als Canterano-Liebhaber tief im Herzen, so zweifle ich immer mehr an meinem eigenen Weltbild von den immer treuen Canteranos beim großen Klub Real Madrid.
Aber was kann Real Madrid mal wieder für zwei gehende Spieler, denen eigentlich Verlängerungsangebote unterbreitet wurden, wie bei Sergio Ramos, Karim Benzema, Marco Asensio, Toni Kroos und anderen auch? Wo kommen wir denn da hin, wenn jeder Spieler nach einer Saison mit zwei, drei Titeln sagt: „Boah, besser geht’s nicht, ich geh’ lieber.“ Das ist Real Madrid, der Traum muss sein, hier über Jahre hinweg dem Team zu helfen und erfolgreich zu sein, die Spitze zu halten. Ich würde Nacho und Joselu fast sogar vorwerfen, dass sie als Canterano eine besondere Verantwortung haben, denn sowas wie sie gibt es nicht wie Skandale in Barcelona. Keine launischen Eintagsfliegen wie James Rodríguez oder Eden Hazard, sondern verlässliche, ihre Rolle akzeptierende Typen, die sportlich wie moralisch einen großen Wert haben fürs Team, und die jedes andere Team gerne hätte.
Über Nachos Wechsel hatte ich meinen Unmut bereits geäußert: einerseits war ich traurig aufgrund des Abgangs an sich (auch wenn der teilweise nachvollziehbar ist), aber auch enttäuscht aufgrund seines Ziels beziehungsweise seiner Begründung. Als hätte er in Italien oder den USA oder sonst wo nicht ebenso nett kassiert (ohne mögliches Real-Aufeinandertreffen) und genauso nette Einsatzzeiten bekommen. Dass sowohl er „als auch meine Familie eine neue Erfahrung“ brauchen, nehme ich ihm nicht ab, zumindest nicht als Hauptargument für Saudi-Arabien. Aber gut: Er hat jahrelang alles gegeben, auf manches verzichtet, wäre meiner Meinung nach trotzdem noch als dritter oder vierter Innenverteidiger auf seine Einsätze gekommen (wer sagt, dass David Alaba wieder der von 2022 wird?). Egal. Nacho: Danke für alles, auch wenn bei mir ein dickes Geschmäckle bleibt, und sein Legendenstatus nun doch nicht ganz so hoch ist, wie ich dachte. Und hoffte…
Aber Joselu? Da träumt er jahrelang davon und arbeitet darauf hin, zu Real Madrid zurückzukehren. Erfüllt sich schlussendlich diesen Traum. Wiedervereinigt mit seinem Schwager. Geliebt von Fans und einem Klub, der ihn ein weiteres Jahr halten will. Nur um nach zehn Profi-Stationen in drei Ländern und nach nur einem Jährchen bei Real Madrid quasi mit 34 Jahren in die Fußballrente einzutreten? POR QUÉ?!
„Vor Jahren bin ich gegangen, aber ich war nie weg. Heute gehe ich auch, aber in Wirklichkeit bleibe ich“, schreibt er in seinem Abschiedsbrief. Wie, du bleibst? Was bleibt? Eine sehr geile Saison, joa, nicht nur wegen des Bayern-Doppelpacks. Aber come on, das ist Real Madrid! Wer diesen Traum hat, der haut nicht nach einem Jahr schon ab, wenn der Klub ihn halten will – frag’ mal Chicharito oder Emmanuel Adebayor, was die für einen Verbleib getan hätten. In einer maximal 72 Pflichtspiele reichen Saison 2024/25 wäre Joselu auch mit Kylian Mbappé und Endrick auf seine 40 Einsätze und 15 Tore gekommen (in der abgelaufenen Saison waren es 49 beziehungsweise 17), mal davon abgesehen, dass es dieses Stürmerprofil des großen, kopfballstarken, lauernden Mittelstürmers auch weiter kein zweites Mal im Kader gegeben hätte. Er hätte locker noch seinen vierten und fünften Vereinspokal gewonnen, gefährdet stattdessen seinen Nationalspieler-Status – Gerard Moreno bedankt sich.
Will er, nachdem er bereits bei Stoke, Alavés, Espanyol und Co. neben zweitklassigen Mitspielern als Stammspieler gesetzt war, jetzt wirklich nach Katar, um dort gesetzt zu sein? Einer, der betonte, dass jede Minute im weißen Trikot ein Traum sei? Wie Nacho kann ich auch Joselu diesen Wechsel nicht abnehmen. Während Nacho vielleicht noch ein paar halbe Naja-okay-Gründe hatte, geht ein so oft umgezogener Spieler wie Joselu nicht aus Gründen wie, mit der Familie noch was erleben zu wollen, oder um gesetzt zu sein, nein, er geht nur aus finanziellen Gründen. Und das vom umsatzstärksten Verein der Welt, der nun wirklich nicht auf Kurzarbeit ERTE angewiesen ist wie andere spanische Top-Klubs. Geld ist wichtig, aber für das drei- oder vierfache des Real-Gehalts so viel aufgeben? Und dann nicht mal ehrlich genug sein, und etwas in die Geld-Richtung zu sagen, wie dass sich eine Gelegenheit bietet, für die Zukunft der Familie zu sorgen? Nicht vergessen: Im März verriet Joselu noch, er wolle „das Bestmögliche geben, um eine noch viel längere Zeit hier zu sein.“
Ich verstehe das alles nicht mehr. Dass Real Madrid nicht mehr so einfach einen Kevin de Bruyne bekommt wie früher einen David Beckham, schon klar. Aber wenn selbst Kapitäne und Eigengewächse Jahr für Jahr dem Geld aus gewissen Staatsfonds erliegen, was soll man da an Real Madrid noch für echt halten, wenn nicht mal mehr die Canteranos? Natürlich bleiben mir und den Madridistas noch genügend andere Idole – Stars wie Canteranos – erhalten, aber dass nach Nacho jetzt auch Joselu geht, und das in ein ähnliches dubioses Land, das erschüttert ein bisschen mein Weltbild.
Jeder Mensch, natürlich auch jeder Fußballprofi, darf und sollte seine eigenen Entscheidungen treffen, seine Wünsche verfolgen. Nacho und Joselu haben meiner Meinung nach trotzdem ihren Ruf ganz schön angekratzt. Und Real Madrid macht es mit. Gut, bei Nacho war es klar, da gilt das Motto: Legenden dürfen sich aussuchen, wann und wie sie gehen. Faire Regel nach zwölf Jahren bei den Profis. Aber Joselu? Dass die Blancos die 1,5-Millionen-Option ziehen, um ihn für den gleichen Preis weiterzuverkaufen, mag ein netter Gefallen für einen Spieler sein, der summa summarum trotzdem „nur“ 51 Mal das weiße Trikot getragen hat, aber erstens zieht man so eine dubiose Nummer nicht mit einem eigentlich eher freundschaftlich gesinnten Klub wie Espanyol ab und zweitens macht man einem Klub aus einer Liga, die für so viele Probleme auf dem Transfermarkt wie beispielsweise urplötzlich wechselwillige Benzemas verantwortlich sind, nicht so ein Geschenk. Mir geht’s auch nicht um die fünf Millionen, die Real Madrid mehr hätte verdienen können, sondern einfach ums Prinzip.
Real muss größer sein, für mehr stehen, sich zur Wehr setzen. Stattdessen haben Florentino Pérez und Co. Benzema trotz Vertrags ziehen lassen (okay, die oben erwähnte Legenden-Regel), hat sich von satten Spielern wie Gareth Bale (okay, eher dessen Berater) und Mariano Díaz auf der Nase rum tanzen lassen, hat viele Canteranos verloren wie ganz frisch Nacho und Joselu … bisher ist all das gut gegangen, wie die letzten titelreichen Jahre zeigen. Aber je mehr sowohl Eigengewächse als auch erfahrene Spieler gehen, desto mehr verliert Real Madrid das Gleichgewicht der Dreieinigkeit: Weltstars, Routiniers, Canteranos. Real Madrids Erfolgsmischung.
Die Blancos müssen aufpassen, in einem immer gnadenloseren Fußballbusiness nicht zu gnädig zu sein, vermutlich auch früher für Klarheit sorgen bei Deals statt bis Mitte Juni abzuwarten. So wie ich aufpassen muss, dass ich mir nicht zu viele falsche Hoffnungen und Bilder von Idolen mache, denn mit meiner Kritik an den letzten beiden Wechseln gehöre ich eher zur woken Minderheit, wie sich nicht nur mit einem Blick in die Herzchen-triefende Kommentarliste der Spieler zeigt, sondern auch in spanische Medien. Hinterfragt oder zumindest mal kurz kritisch beäugt wird da wenig. Dankbarkeit gehört dazu, empfinde ich auch, aber diese Wechsel schmecken mir gar nicht, nicht nur das Wohin. Auch nicht nach einer teils schlaflosen Nacht.
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