Olympia: Zahnkämpfer Niklas Kaul spricht über "Titelfavorit" Leo Neugebauer
Für Niklas Kaul stehen die Olympischen Spiele bevor. Bei t-online spricht der 26-Jährige über seine Verfassung und den großen Rivalen Leo Neugebauer. Niklas Kaul ist Europameister im Zehnkampf. Am Montag beginnt die Mission, seinen Titel bei der Leichtathletik-EM in Rom zu verteidigen. Am Dienstagabend nach dem 1.500-Meter-Lauf wird der neue König der europäischen Athleten feststehen. Im Interview mit t-online spricht Kaul über die EM und die Olympischen Spiele in Paris. Er geht auch auf seinen deutschen Teamkollegen und zugleich Konkurrenten Leo Neugebauer ein, der erst kürzlich den deutschen Rekord verbessert hat. t-online: Haben Sie heute schon "Bad Moon Rising" gehört? Niklas Kaul: Ne, heute noch nicht (lacht laut). Es ist Ihr Song zum Abschalten, wie Sie in Ihrem Buch "Die Magie des Zehnkampfs" schreiben. Was genau löst er in Ihnen aus? Für mich ist der Song eine Kindheitserinnerung. Mein Vater mag Musik dieser Art. Wir haben das häufig sonntags gehört, wenn er mich zum Speerwurf-Training gefahren hat. Zudem verbinde ich damit schöne Trainingseinheiten. Hören Sie den Song auch im Wettkampf? Ja, weil eben diese Erinnerungen hochkommen. Ich habe dann im Kopf, wie häufig ich das, was ich jetzt gleich als Disziplin machen darf, schon gemacht habe. Und wie viel Spaß es mir seit Kindheitstagen macht. Warum haben Sie sich für den Zehnkampf und damit die Königsdisziplin der Leichtathletik entschieden? Bevor ich mit Leichtathletik anfing, habe ich Handball gespielt. Das hat mir sehr viel Spaß gemacht, weil es ein Teamsport ist. Dass Leichtathletik eine Einzelsportart ist, ist manchmal schade. Aber im Zehnkampf ist das anders: Die zwei Wettkampftage schweißen uns Konkurrenten zusammen. Wir helfen uns gegenseitig durch gute und schlechte Phasen. Das, was mir in der Leichtathletik gefehlt hat, habe ich im Zehnkampf gefunden. Das ist superschön... ... aber auch sehr herausfordernd, oder? Ja, aber das macht es spannend, weil man sich nicht nur auf eine Disziplin fokussiert. Gerade im Herbst und Winter, wenn es in die Vorbereitung geht, muss ein ganzheitliches athletisches Training absolviert werden. Ich habe nicht so viel Zeit, die Technik zu perfektionieren, sondern muss in eine Gesamtfitness kommen. Im Speerwerfen gehören Sie zur Weltspitze. Wie können Sie sich noch steigern? Ich habe die Technik umgestellt, weil ich zuvor immer mal wieder Rückenprobleme hatte. Wenn die neue Technik funktioniert, kann ich mit ihr mehr Weite erzielen. Letztes Jahr hat es nicht geklappt, weil es zu frisch war. Diese Saison klappt es schon gut. Ich bin zuversichtlich. Sie sind Europameister und können in Rom nun Ihren Titel verteidigen, was erwartet Sie dort? Es ist eine andere EM als damals in München. Zum einen wegen des Publikums. Zum anderen, weil der Zeitpunkt ein anderer ist. Die EM ist in diesem Jahr deutlich früher, als vor zwei Jahren und mein Saisonzehnkampfauftakt. Die EM findet aber auch vor den Olympischen Spielen statt. Im Training liegt der Fokus daher erst einmal auf Olympia. Nichtsdestotrotz versuche ich, in Rom einen möglichst guten Zehnkampf zu machen. Das hilft auch, um mit einem gewissen Selbstvertrauen nach Paris zu fahren. Wollen Sie den Titel verteidigen? Ich würde lügen, wenn ich sagte, dass ich in Rom keine Medaille haben will. Das schon. Aber es wird der Zehnkampfsaisonauftakt, und ich weiß vorher nicht genau, wo ich stehe. Sie sind bereits Europa- und Weltmeister geworden. Fehlt die Olympiamedaille zum sportlichen Glück? Was ich bisher erreichen und erleben konnte, macht mich wahnsinnig glücklich. Die Medaille fehlt nicht zum sportlichen Glück, aber ich hätte sie trotzdem gerne. Wie schätzen Sie die Konkurrenz ein? Bei der WM letztes Jahr war die Zehnkampf-Konkurrenz so stark wie nie zuvor. Es gibt momentan zehn Kandidaten für eben diese drei Medaillen in Paris. Dann muss man schauen, wer gesund und in einer guten Tagesform ist. Und dann ist es eben auch ein bisschen Glück. Gehört zu den zehn Kandidaten auch Ihr deutscher Teamkollege Leo Neugebauer? Unbedingt. Leo ist für mich in seiner aktuellen Verfassung einer der ganz großen Medaillenfavoriten, wenn nicht Titelfavorit. Sie hatten 2021 in Tokio eine Fußverletzung und mussten den Wettkampf abbrechen. Gleiches passierte bei der WM im vergangenen Jahr. Inwiefern beschäftigt Sie das? Wir haben uns im Training viel damit beschäftigt und viel getan, damit der Fuß stabil wird. Ich springe jetzt anders als die Jahre davor, und ich arbeite mit Tape. Damit gebe ich dem Fuß zusätzlich Stabilität. Das sollte helfen. Im Wettkampf werde ich mich damit nicht mehr beschäftigen. Wie wichtig ist die mentale Stärke im Wettkampf? Sehr wichtig, das Mentale macht im Wettkampf 50 Prozent aus. Das Training vorher ist gemacht, daran kann ich dann nichts mehr ändern. Danach findet der Wettkampf nur noch im Kopf statt. Die restlichen 50 Prozent sind Erholung und Ernährung. Wie trainieren Sie, sich mental im Wettkampf zu fokussieren? Ich gehe nach einer Trainingseinheit in mich und lasse sie Revue passieren. Daraus lerne ich viel. In den großen Wettkämpfen versuche ich, mir eine Auszeit zu nehmen, um für mich das durchzugehen, was ich im nächsten Versuch machen will. Bei Wettkämpfen stehen Sie nicht gern im Vordergrund. Warum? Ich mag es nicht so sehr, im Mittelpunkt zu stehen. Das ist mir in manchen Situationen fast schon unangenehm. Aus diesem Grund war es mir auch wichtig, dass es in meinem Buch nicht nur um mich geht, sondern auch um frühere Zehnkämpfer, die zu Wort kommen. Ich will vor allem die Faszination des Zehnkampfs transportieren. Ihre Freundin ist Siebenkämpferin. Zudem werden Sie von ihren Eltern, ehemaligen Leichtathleten, trainiert. Hilft es, wenn sich alle in Ihre Lage versetzen können? Absolut. Wenn es auf die großen Wettkämpfe zugeht, bin ich zwei, drei Wochen davor sehr viel angespannter als sonst. Mir fällt es dann schwer, auf andere so emphatisch einzugehen, wie ich das sonst tun würde. In meinem Kopf dreht sich alles um mich und meinen Sport. Das tut mir auch leid, weil ich es meist erst später merke. Da hilft es, wenn man jemanden an seiner Seite hat, der den Leistungssport und diese Art der Aufregung kennt. Wünschen Sie sich mehr Wertschätzung für Sportler? Ich finde es schade, dass sich viele dafür rechtfertigen müssen, dass sie Leistungssport machen, sei es in der Schule oder der Ausbildungsstätte. Ich selbst habe positive Erfahrungen gemacht, aber auch negative in meinem Umfeld mitbekommen. Ich fände es schön, wenn Leistungssport wieder einen anderen Stellenwert bekäme. Es geht nicht darum, dass wir einen roten Teppich ausgerollt bekommen, das ist Quatsch. Worum geht es dann? Um das Verständnis, dass ein Leistungssportler mit einer dualen Karriere zu gewissen Zeitpunkten bestimmte Dinge aufgrund von Training, Trainingslager oder Wettkampf nicht leisten kann. Der Leitungssport hat für Kinder und Jugendliche noch immer eine gewisse Vorbildfunktion. Ich finde es wichtig, dass wir auch in Zukunft Leistungssport in Deutschland haben. Zweifeln Sie daran? Viele Kinder und Jugendliche wollen gern Leichtathletik machen, aber wir haben zu wenige Trainer, auch wir beim USC Mainz. Das liegt daran, dass es Ehrenämter sind und damit davon abhängt, ob jemand dafür Zeit und Muße hat. Stattdessen müsste in die Trainerausbildung und die Anstellung von Trainern investiert werden. Sei es über hauptamtliche Trainer, halbe Stellen oder Lehrertrainerstellen. Sie studieren auf Lehramt, könnten Sie sich das vorstellen? Ich fände es super, wenn ich einen gewissen Teil in der Schule unterrichten und außerdem als Trainer in einem Verein arbeiten könnte. Das wäre in meinen Augen das Optimum. Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Ich wünsche mir, dass ich gesund und verletzungsfrei bleibe. Es gibt für einen Sportler nichts Blöderes, als verletzt zu sein und das nicht machen zu können, was man so sehr liebt. Für die Zeit nach dem Sport würde es mir Spaß machen, in die Schule zu gehen und als Lehrer zu arbeiten. Einen richtigen Lebensplan habe ich aber nicht, weil das nicht funktioniert. Das habe ich durch den Sport gelernt.