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Sehen so Sieger aus? – Frankreichs "Linke" im postfaktischen Zeitalter

Preview Die Linke in Frankreich behauptet nach wie vor, dass sie die vorgezogenen Parlamentswahlen gewonnen hat. Doch eine genaue Analyse der ersten und zweiten Runde der Wahlen kommt zu einem völlig anderen Ergebnis.

Von Pierre Levy 

Der Aufstieg des "Trumpismus" in den USA, aber auch in Europa, wird oft mit dem Beginn des Zeitalters der "Postwahrheit" in Verbindung gebracht. Dieser Begriff bezieht sich in der Regel auf die Massenproduktion von – manchmal riesigen – Lügen, die letztendlich ihre Urheber selbst überzeugen. Die erdachte "Realität" nimmt allmählich den Platz der realen Wirklichkeit ein – so zumindest das Bild, das Kritiker anprangern.

Wenn man diese Definition akzeptiert, dann sind die französische "Linke" und viele Kommentatoren auf dem besten Weg, den ehemaligen und vielleicht nächsten US-Präsidenten auf diesem Gebiet zu schlagen. Und zwar mittels der Wiederholung der Legende, dass die "Neue Volksfront" (NFP, Bündnis von vier linken Parteien) die Wahlen vom 30. Juni und 7. Juli gewonnen habe.

Eine solche Behauptung wird durch eine sachliche Analyse der Wahlergebnisse völlig widerlegt. Man muss daran erinnern, dass es der erste Wahlgang ist, der es ermöglicht, den jeweiligen Einfluss der verschiedenen politischen Parteien zu messen, da die Wähler zu diesem Zeitpunkt ihre Präferenz ausdrücken – oder sich der Stimme enthalten.

Am 30. Juni belief sich die Gesamtzahl der von der NFP nominierten Kandidaten auf 28 Prozent der Stimmen. Das ist neben 2017 und 2022 der niedrigste Wert für die Linke seit der Entstehung der Fünften Republik (1958) und sogar noch viel früher. Und das trotz einer wenige Tage vor den Wahlen besiegelten Union, die Hoffnung und politische Dynamik auslösen sollte.

Nach dem ersten Wahlgang begann dann eine Woche, die von einem einzigen Slogan geprägt war, der von der extremen Linken (Nouveau parti anticapitaliste, NPA) über die Parteien, die Emmanuel Macron unterstützen, bis hin zur klassischen Rechten reichte: Alle vereinen sich, um dem Rassemblement National (RN) den Weg zu versperren. So wurden Macron-Wähler dazu aufgerufen, für NFP-Kandidaten zu stimmen, wenn diese die besten Chancen hatten, während linke Sympathisanten im umgekehrten Fall ermahnt wurden, in der Mitte oder auf der rechten Seite zu wählen. Es spielte keine Rolle, welche Programme und welche Gegensätze sie hatten, Hauptsache, man schlug die Kandidaten des RN.

Die Webseite "Le Fil d'actu" hat beispielsweise errechnet, dass die Wähler der Linken 86 zusätzliche Abgeordnete aus dem Lager des Präsidenten gewählt haben, die ohne ihre Stimmen nicht gewonnen hätten. Und außerdem haben die Wähler der Rechten und der Mitte (zumindest eine Mehrheit von ihnen) dazu beigetragen, dass zahlreiche NFP-Kandidaten gewählt wurden. Mit dem Ergebnis, dass die vier Komponenten der NFP (Sozialistische Partei, Kommunistische Partei, Grüne, La France insoumise) nach Sitzen die größte Koalition in der neuen Versammlung bilden, nämlich 193 Abgeordnete, die jedoch weit von der absoluten Mehrheit (289) entfernt sind.

Bedeutet dies, dass die Bürger der Linken zum Sieg verhelfen wollten und ihr Programm unterstützt haben? Man kann das natürlich bedauern, aber die Antwort ist eindeutig: Nein. Es bedeutet lediglich, dass die Absprache zwischen den beiden Wahlgängen von acht zu eins – die vier linken Parteien, die drei, die Emmanuel Macron unterstützen, und die klassische Rechte gegen das RN – verhindert hat, dass Le Pens Partei rund 100 ihrer Kandidaten wählen konnte.

Daher rührt die zweite, ebenso verbreitete wie falsche Legende, wonach die Freunde von Marine Le Pen als Verlierer aus den Wahlen hervorgegangen seien. Paradoxerweise haben die Führer des RN selbst diese These bestätigt, indem sie von einer "Niederlage" sprachen. Diese seltsame Reaktion erklärt sich durch die große Enttäuschung der Parteiführer: In verwirrender Naivität hatte sich ihr Chef Jordan Bardella nach den Ergebnissen der ersten Runde bereits als Premierminister gesehen.

Die Realität ist jedoch – ob sie einem nun gefällt oder nicht –, dass der RN mit 126 Abgeordneten die größte Fraktion in der Versammlung geworden ist (denn die linken Abgeordneten teilen sich in vier Fraktionen auf, und es ist irreführend, eine Parteienkoalition mit einer Partei allein zu vergleichen).

Vor allem aber ist der RN auf spektakuläre Weise zur stärksten Partei Frankreichs geworden: Am 30. Juni sammelte er 33,2 Prozent bzw. 10,6 Millionen Stimmen. Dies bedeutet einen Sprung von 14,5 Prozentpunkten (und mehr als eine Verdoppelung der Stimmenzahl) im Vergleich zur vorherigen Wahl im Juni 2022 (18,7 Prozent, 4,2 Millionen Stimmen). Letztere hatte selbst einen deutlichen Anstieg gegenüber Juni 2017 verzeichnet, als der RN "nur" 13,2 Prozent (drei Millionen Stimmen) auf sich vereinigen konnte. Es gibt einige politische Führer, die sich gerne mit einem solchen "Misserfolg" zufriedengegeben hätten …

Trotz dieses Ergebnisses haben sich die linken Abgeordneten dafür eingesetzt, dass … null RN-Abgeordnete in das 22-köpfige Präsidium der Versammlung gewählt wurden. Eine "Blockade", die im Namen "moralischer Werte" angenommen wurde. Es ist nicht sicher, ob diese Auffassung von Demokratie von den Wählern des RN – und anderen – geschätzt wird. Zumal an diese damit implizit die Botschaft gesendet wird: Du bist aus dem Volk, das etwas zählt, ausgeschlossen. Unfreiwillig könnten die Befürworter der "RN-Sperre" so zu einem Volkszorn beitragen, der die Wahl von Madame Le Pen in den Élysée-Palast bei nächster Gelegenheit begünstigen könnte.

Was den Vorsitz der Kammer betrifft, so ging er an diejenige, die dieses Amt bereits in der vorherigen Legislaturperiode innehatte, Yaël Braun-Pivet, eine Sympathisantin des Élysée-Palasts. Dies wiederum erregte den Zorn der Linken, die immer noch von ihrem "Wahlsieg" überzeugt war. Führende Vertreter der NFP prangerten "Manöver" und eine "Absprache" zwischen Abgeordneten der Macronisten und der klassischen Rechten an. Ein solches Bündnis sei in ihren Augen "unnatürlich".

Im Übrigen soll sich eine ideologische Kluft zwischen den Freunden des aktuellen Präsidenten und denen eines seiner Vorgänger, Nicolas Sarkozy, aufgetan haben. Inhaltlichen Unterschiede zwischen den beiden sucht man indes vergebens – wie es die Linke seit mehreren Jahren immer wieder betont!

Und wie geht es jetzt weiter? Wie seit dem Abend des zweiten Wahlgangs (und sogar des ersten) klar war, hat der Staatschef überhaupt nicht die Absicht, einen linken Premierminister zu ernennen (selbst wenn sich die Linke endlich auf einen Namen einigen würde). Zum einen, weil die Verfassung ihm keine Einschränkungen auferlegt, weder bei der Wahl selbst noch bei der Frist. Das einzige Risiko besteht darin, dass nach der Regierungsbildung ein Misstrauensantrag gestellt wird. Dies ist derzeit jedoch unrealistisch, da es dafür keine absolute Mehrheit gibt (zumal die NFP ausgeschlossen hat, egal unter welchen Umständen, gemeinsam mit dem RN zu stimmen).

Zum anderen und vor allem, weil es keinen Druck der Bevölkerung auf den Élysée-Palast gibt. Linke Aktivisten und "Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft" können noch so sehr auf ihren "Sieg" hinweisen, bei den Wählern ist kein Schwung zu erkennen. Denn hinter der Linken liegen vier Jahrzehnte gebrochener Versprechen, Verrat, Austerität, kriegerische und westliche Ausrichtung, kurz: Treue zu den Dogmen der EU.

Der Präsident wird also versuchen, eine – wahrscheinlich prekäre – Mehrheit zu bilden, die seine Anhänger, die Rechte, aber auch Sozialisten und Grüne vereint. Zumal man in Brüssel, wo gerade ein Überwachungsverfahren gegen Frankreich in Bezug auf seine öffentlichen Finanzen eingeleitet wurde, langsam ungeduldig werden könnte …

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