Kommentar: Calma, calma – das „neue Real“ ist in der Findungsphase
Als am späten Sonntagabend der Schlusspfiff im Estadi Mallorca Son Moix ertönt, wirkt nicht nur Chefcoach Carlo Ancelotti ein wenig enttäuscht. Auch ich frage mich vor dem Fernseher, warum Real Madrid beim 1:1 zum Auftakt in LaLiga vor allem in Durchgang zwei so wenig zu überzeugen wusste. Trotz Kylian Mbappé und dem zuvor gewonnenen UEFA Super Cup. Der „Mister“ blieb in seiner Analyse nach Schlusspfiff klar und unmissverständlich: „Uns hat die defensive Balance gefehlt, haben zu viele Konter und Flanken zugelassen. Das war ein Spiel, das wir auch verlieren können. Das war kein gutes Spiel von uns. Wir müssen besser verteidigen und eine bessere Balance auf dem Feld haben. Die defensive Balance ist fundamental, weil wir ein offensives Team sind.“
Damit trifft „Carletto“ den Nagel in meinen Augen auf den Kopf. Zwar haben die Königlichen nach dem ordentlichen Auftritt gegen Atalanta Bergamo auch auf Mallorca eine sehenswerte Anfangsphase gespielt, sind mit einem schönen Rodrygo-Treffer (13.) nach ebenso feiner Vinícius-Vorlage sogar in Führung gegangen. Mit zunehmender Spielzeit wirkten die Blancos jedoch defensiv deutlich verwundbarer als über weite Strecken der Vorsaison (lediglich 0,68 Gegentore pro Partie in LaLiga). Immer wieder leistete sich der Rekordmeister unnötige Ballverluste in der Vorwärtsbewegung, sicherte zudem die Konter nicht konsequent ab. Völlig folgerichtig bestrafte Vedat Muriqi einen Rüdiger-Aussetzer in der 53. Spielminute mit dem Ausgleich. In der Schlussphase wirkte es (nicht nur) für mich so, als wären die Mallorquiner dem Siegtreffer näher als das königliche Starensemble um Kylian Mbappé. Ancelotti zeigte sich unzufrieden mit der Einstellung seines Teams: „Vor einem Jahr war ich mit einem Unentschieden zufrieden. Heute bin ich es nicht, weil wir es hätten besser machen können. [..] Ich denke, aus der heutigen Partie können wir viel lernen, weil sehr offensichtlich ist, wo das Problem lag.“ Wer nicht im Kollektiv verteidigt, wird es auch gegen vermeintlich „kleine Gegner“ schwer haben, erfolgreich zu sein. Zumal die Offensivmaschine noch (längst) nicht zu laufen scheint.
Denn: Abgesehen von der fehlenden defensiven Kompaktheit wirkte Real auch in Ballbesitz über weite Strecken uninspiriert. In der Schlussphase schoben sich die Gäste das Leder rund um den RCD-Strafraum ewig lange hin und her, ohne eine klare Aktion in Richtung Tor zu suchen. An dieser Stelle hätte den Merengues vermutlich auch ein richtiger Mittelstürmer gutgetan. Denn oftmals befanden sich die Flügelspieler des amtierenden Meisters in guten (Flanken)positionen. Ohne klaren Zielspieler, wie Joselu dies in der Vorsaison war, verzichtete der Hauptstadtklub aber auch in den Schlusssekunden auf hohe Hereingaben.
Allerdings ist es nur aufgrund des ernüchternden Ligaauftakts noch nicht an der Zeit, grundsätzliche Fragen zu stellen. Die Saisonvorbereitung war für den Stamm der Mannschaft – auch vor dem Hintergrund der Europameisterschaft und der Copa America – äußerst kurz. Zudem war der Champions-League-Sieger erneut auf werbewirksamer US-Reise, sodass Ancelotti und Co. schlicht weg die Zeit fehlte, um wichtige Automatismen einzuschleifen. Dass sowohl im Spiel mit als auch gegen den Ball ebensolche Abläufe essenziell sind, um erfolgreich und ökonomisch zu spielen, ist keine neue Erkenntnis. Hinzu kommt, dass Real wieder in einem klareren 4-3-3-System agierte – ohne Taktgeber Toni Kroos. Hoffnung macht in diesem Zusammenhang allerdings der Auftritt von Jude Bellingham, der schon auf Mallorca wieder deutlich aggressiver gegen den Ball und präsenter mit Ball wirkte.
Ja, es knirscht definitiv noch deutlich wahrnehmbar im königlichen Getriebe. Und ja: Klarere offensive und defensive Abläufe sind nötig, um die selbstgesteckten Ziele zu erreichen. Ancelotti, die Spieler und der gesamte Staff wissen jedoch, welche Stellschrauben zu drehen sind, um die Probleme sukzessive zu bearbeiten. Und auch wenn ich hoffe, dass noch ein klarer Neuner nachverpflichtet wird, bin ich überzeugt, dass der Knoten eher früher als später platzen wird. Dieses Real Madrid verfügt über eine immense Qualität – und das auf allen Positionen. Also: Calma, calma – Real wird bald anders auftreten!
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