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Markus Lanz, 29.8.2024: Diskussion über Ostdeutschland vor Landtagswahlen

Bei Markus Lanz ging es vor den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen um die Gründe für die hohen AfD-Werte – und die Frage, wie damit umzugehen ist. Ohne Politiker, dafür mit einem munteren Quartett aus Journalisten und Autoren hat sich Markus Lanz am Donnerstagabend an einem Stimmungsbild Ostdeutschlands vor den anstehenden Landtagswahlen versucht. Dabei sorgte der Autor Hasnain Kazim, der für sein neues Buch "Deutschlandtour" 3.000 Kilometer mit dem Fahrrad durchs Land gefahren ist, gleich mit seiner Einstiegsbemerkung für die erste Kontroverse: Er habe gelernt, dass der Osten auch 33 Jahre nach der Wiedervereinigung "noch anders tickt", so Kazim, sei aber positiv überrascht gewesen, "dass man nahezu mit allen Menschen dort gut reden kann". Das klinge ein wenig nach der "Schilderung eines Zoobesuchs", merkte der Moderator an und erhielt Zustimmung von der Journalistin Anna Lehmann. Das habe etwas "Exotisierendes", statt Zuschreibungen à la "So isser, der Ossi" brauche es mehr "Respekt und Interesse", forderte die "taz"-Redakteurin. Der Osten sei in vielem unterschiedlich, "aber nicht so unterschiedlich, dass man sagen muss: Das ist jetzt 'ne andere Spezies". Die Gäste: Hasnain Kazim, Autor und Journalist Marc Felix Serrao, Journalist Anna Lehmann, Journalistin Dirk Oschmann, Literaturprofessor und Publizist Auf die ökonomische Kluft zwischen Ost und West wies der Leipziger Bestsellerautor Dirk Oschmann ("Der Osten – eine westdeutsche Erfindung") hin: 90 Prozent des Wohneigentums in Leipzig gehörten Westdeutschen, der Stadt-Land-Unterschied sei im Osten größer, es gebe ein sechsmal höheres Armutsrisiko als im Westen, der Anteil des Ostens an der Erbschaftssteuer betrage gerade einmal zwei Prozent. Da griffen "Reiz-Reaktionsmuster" eben schneller. Auch er fand aber, dass der Osten im internationalen Vergleich etwa mit Mittelengland oder ländlichen Gebieten Frankreichs kein singulärer Sonderfall sei oder gar eine eigene Spezies beherberge. Schließlich seien auch in anderen Ländern Populisten erfolgreich. Verspielte Chancen nach der Wende Anna Lehmann, wie Oschmann Ostdeutsche, erinnerte daran, dass nach der Wende Millionen Menschen das Gefühl gehabt hätten, "verzichtbar" zu sein, und äußerte die Vermutung, dass sich dieser "Transformationsschock" auf die nachfolgenden Generationen übertragen habe. Damals seien viele Chancen verspielt worden, etwa die, einen gemeinsamen Verfassungsentwurf zu erarbeiten. Dem pflichtete wiederum Oschmann bei. Es habe kein Prozess auf Augenhöhe stattgefunden. Der Einwurf Hasnain Kazims, er finde "dieses Gerede ein bisschen larmoyant", brachte den Literaturprofessor ebenso in Rage wie Kazims Verwunderung darüber, dass sich viele Sachsen ihres Dialekts schämten: Letzteres sei das Resultat einer jahrzehntelangen "Diffamierungsgeschichte", so Oschmann, und der Larmoyanz-Vorwurf das "Standard-Argument", mit dem berechtigte Hinweise als Jammern abgetan würden. Oschmann forderte zudem, "die Langzeitperspektive seit 1933 im Blick zu haben". Der Autor erklärte: "Deutschland ist in einem spezifischen Sinne nie vom Faschismus befreit worden." Auf Hasnain Kazims Insistieren ("Ernsthaft?") stellte er klar, dass er damit nicht meine, dass die Deutschen immer noch in einem faschistischen Land lebten, sondern dass man mit Blick auf Björn Höcke feststellen müsse, den Faschismus nicht losgeworden zu sein. Lanz: "Wie soll man mit dem AfD-Erfolg umgehen?" Nachdem auch noch die Hartz-IV-Gesetze des rot-grünen Gerhard-Schröder-Kabinetts als besonders hart für den Osten kritisiert worden waren, war es am "NZZ"-Redakteur Marc Felix Serrao, die Frage aufzuwerfen, ob die aktuelle Stärke der AfD in Sachsen und Thüringen nicht auch an den Versäumnissen der Ära Merkel beziehungsweise an der aktuellen Regierungspolitik liegen könne. Dies untermauerte Kazim mit einer Anekdote über eine heutige AfD-Wählerin, die sich wegen des Heizungsgesetzes der Ampelkoalition der Rechtsaußenpartei zugewandt habe. Oschmann führte an, dass es im Osten keine jahrzehntelange Parteienbindung gebe, Anna Lehmann nannte als weitere Ursachen "Abwanderung", die zu einer "Wagenburg-Mentalität" führe, sowie die "Vermännlichung" des Ostens. Oschmann ergänzte noch Überalterung. Schließlich brachte Markus Lanz die Frage auf, wegen der er Marc Felix Serrao eingeladen hatte: "Wie soll man mit dem AfD-Erfolg umgehen?", wollte der Moderator angesichts der Wahlprognosen wissen. Der NZZ-Journalist hatte bereits im Februar in einem Artikel gefordert, die Rechtspopulisten mitregieren zu lassen, weil man sie nur so wieder "kleinkriegen" könne. Auch in der Sendung vertrat er die Auffassung, dass das Brandmauer-Prinzip der Ausgrenzung nicht funktioniere, sondern die Partei nur immer größer habe werden lassen. So drohe in fünf Jahren vielleicht gar eine absolute AfD-Mehrheit. In einer Koalition dagegen würde die Partei zur Mäßigung gezwungen. Diesem Einhegungsgedanken widersprach am deutlichsten Anna Lehmann. Immerhin habe die Brandmauer dazu geführt, dass es noch keine AfD-Regierungsbeteiligung gebe, argumentierte die "taz"-Redakteurin. Außerdem habe der Versuch der Zähmung bei der NSDAP einst auch nicht funktioniert. Während Serrao diesen Vergleich problematisch fand, stimmten die beiden in der Analyse überein, dass es erstaunliche Schnittmengen zwischen AfD und BSW gebe, was die CDU noch in Schwierigkeiten bringen werde. "Die Ränder des publizistischen Spektrums kommen sich näher", kommentierte Serrao diese seltene Einigkeit.

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