Warum "unsere Demokratie" nicht sehr demokratisch ist – Teil 2
Von Dagmar Henn
Aber innerhalb der Parteien selbst gibt es weitere Probleme. Jede Partei entwickelt einen Apparat. Das ist unvermeidlich; irgendwer muss die Übersicht über die Mitglieder behalten, dafür sorgen, dass Versammlungen stattfinden, dass für diese eingeladen wird, dass der Informationsfluss zwischen den verschiedenen Ebenen funktioniert und im günstigsten Fall auch, dass die Voraussetzungen für demokratische Entscheidungen geschaffen werden.
Im günstigsten Fall deshalb, weil die Voraussetzungen nicht einfach herzustellen sind. Wenn man beispielsweise eine wirklich demokratische Entscheidung herbeiführen will und es dafür zwei oder drei miteinander konkurrierende Anträge gibt, wäre eine Voraussetzung, dass in der entscheidenden Parteiversammlung jeder Teilnehmer alle Texte ausgedruckt vor sich hat, um beispielsweise Änderungen vorschlagen zu können. Dafür braucht es aber jemanden, der die Vorschläge entgegennimmt, sie in ein passendes Format bringt und dafür sorgt, dass sie ausgedruckt werden und bei der Versammlung selbst vorhanden sind. Das klingt eigentlich selbstverständlich. Aber es erfordert Zeit und Einsatz, und vielfach fehlt es dann an beidem. Die Lösung? Es gibt irgendwo jemanden, der dafür bezahlt wird, das zu tun.
Das ist, nebenbei, auch eine Folge des allgemeinen Mitgliederschwunds – viele Parteien lassen ihre Wahlwerbung längst von kommerziellen Firmen verteilen, die Plakate auf- und abhängen etc. Früher, also vor dreißig Jahren noch, tat das eigentlich nur die FDP, die immer besonders viele große Spenden erhielt. Andere Parteien kompensierten das durch einen höheren Einsatz ihrer Mitglieder. Diese Kompensation ist weitgehend entfallen, weil die Mitgliedschaft nicht nur kleiner, sondern auch älter geworden ist. Was wiederum den Einfluss besagter Spenden auf die Politik insgesamt erhöht.
Aber zurück zum Aufwand. Wirkliche Demokratie, wenn man sie in einer Partei ernsthaft leben will, ist zeitaufwendig, anstrengend und – ja, das mag manche überraschen – oft ziemlich langweilig. Weil natürlich jeder in einer offenen Debatte eine ganze Menge Beiträge hören muss, die er selbst als unsinnig empfindet, zu einem Thema, zu dem man ja bereits eine Ansicht hat. Und wirklich jeder kommt in eine Partei mit einer Lebenserfahrung, die von hierarchischen und völlig undemokratischen Strukturen geprägt ist. Bis man die Erfahrung macht, dass das Ganze mit Zeitaufwand und Langeweile die Mühe wert ist, weil daraus ein gutes Ergebnis entstehen kann, braucht es Jahre. Das setzt aber langfristiges Engagement voraus, zu dem viele nicht mehr bereit sind.
Im Grunde muss man auf unterer Ebene die demokratischen Abläufe ständig gegen die Erwartung scheinbarer Effizienz verteidigen, die aus den besagten undemokratischen Alltagsstrukturen stammen. Dabei ist diese Effizienz nur auf einer Grundlage möglich – wenn das angestrebte Ziel einfach ist. In einem Konzern heißt es schlicht, möglichst viel Geld zu verdienen; ein Kriterium, dessen Erfüllung einfach zu kontrollieren ist. Eine Gesellschaft nicht nur zu verwalten, sondern zu entwickeln und womöglich gar Antworten auf völlig neue Fragestellungen zu finden, ist jedoch eine weit komplexere Aufgabe, und je mehr Informationen für eine richtige Entscheidung nötig sind, desto eher gerät die vermeintlich effiziente Struktur zum Nachteil und die vermeintlich mühsame demokratische Entscheidung zum Vorteil.
Nun gibt es allerdings viele Methoden, um Demokratie innerhalb von Parteien zur reinen Formalität herabzustufen. Stellen wir uns einen Parteitag vor. Da gibt es mehrere Ansätze zur Kontrolle. Der erste besteht darin, sich genug Delegiertenmandate zu beschaffen. Hebel dabei ist beispielsweise die Aufteilung der Mitgliedsbeiträge. Wenn die unteren Ebenen so wenig Geld haben, dass sie etwa bei der Landesebene um Zuschüsse bitten müssen, können auf diese Weise die Landesvorstände ihre Positionen absichern – Geld gibt es nur für Kreise, die gehorchen. Wenn es nicht völlig gelingt, die Mehrheit auf diese Weise abzusichern, versucht man es über die Mandatsprüfung beim Parteitag und erklärt dort Mandate für ungültig. Wenn später ein Parteiverfahren zu dem Schluss kommt, dieser Schritt sei nicht rechtmäßig gewesen, sind die Ergebnisse dennoch bereits zementiert.
Bei der Parteitagsregie sind neben der Mandatsprüfung auch noch die Wahlkommission und die Antragskommission wichtig; das Tagungspräsidium kann man offen gestalten. Die Antragskommission jedoch kann mit ihrer Reihung und eventuellen Empfehlungen dafür sorgen, dass inhaltliche Festlegungen, die nicht passen, entweder gar nicht behandelt oder ihre Chancen durch die Empfehlungen gemindert werden. Unerwartete Inhalte kann man mit einer knapp gehaltenen Redezeit verhindern. Mit ein bisschen Geschick und Erfahrung lässt sich aus jedem Parteitag eine reine Showveranstaltung machen, bei der keine Gefahr besteht, dass den Wünschen der Vorstände zuwidergehandelt wird.
Allerdings haben diese Manöver einen Preis. Schließlich ist es der Teil der Mitgliedschaft, der wirklich politisch gestalten will, der die Arbeit trägt; wenn derartige Eingriffe zur Regel werden, verschwinden diese Mitglieder einfach; schließlich kann man niemanden zur Mitgliedschaft in einer Partei zwingen. Und wenn sie einmal verschwunden sind, trägt sich der Apparat noch eine Zeit durch das Personal, das über Abgeordnete zur Verfügung steht, aber das Ende kommt unvermeidlich. Außer natürlich, das fehlende Engagement kann mit Geld kompensiert werden.
Ja, die Höhe der Abgeordnetendiäten trägt sicher dazu bei, die Distanz zwischen der Mehrheit der Wähler, die mit viel weniger auskommen muss, und den Abgeordneten zu erhöhen. Andererseits gibt es durchaus ein starkes Argument gegen niedrige Diäten: Wer genug Geld hat, ist vielleicht nicht ganz so leicht zu kaufen. Bezogen auf die Demokratie in den Parteien sind es aber eher die Mittel für die Mitarbeiter, die genutzt werden; um Personal für die Intrigen zu finanzieren, ebenso wie die eine oder andere kleine Bestechung, um sich Mehrheiten zu sichern (das beginnt schon bei Versprechungen für einen Minijob).
Das, was an den Parteitagen möglich ist, gilt im Regelfall ebenso für Aufstellungsversammlungen für Landtagswahlen. Das absurde Ergebnis im politischen Alltag besteht darin, dass jene, die ihre ganze Zeit (und die ihrer Mitarbeiter) darauf verwenden, den Verlauf von Aufstellungsversammlungen und Parteitagen zu kontrollieren, bessere Aussichten haben als jene, die sich auf tatsächliche politische Inhalte konzentrieren. Auch das ist etwas, was eine Zeit lang gut gehen kann, solange gewissermaßen Inhalte abgearbeitet werden, die bereits vorhanden sind; aber irgendwann landet man dann eben bei einer Außenministerin Baerbock.
Bisher ist weit und breit noch nicht die Rede von Korruption, aber von Demokratie ist nicht mehr viel übrig – sofern man Demokratie so definiert, dass ein Mehrheitswille die Richtung vorgibt. Aber natürlich spielen dann noch die Medien eine Rolle, Großspenden, Lobbyisten und Dutzende Stiftungen, die Politikern gern bestimmte Themen vorkauen, wie die Bertelsmann-Stiftung, und dabei ganz nebenbei, aber eben nicht explizit, die Interessen des Konzerns fördern.
Da ist es eben nicht nur ein Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der persönlich ein Anhänger eines privatisierten Gesundheitswesens ist; da gibt es einen Vorlauf mit Hunderten Veranstaltungen, Broschüren, Vorträgen über ein Dutzend Jahre hinweg, der dafür gesorgt hat, dass viele Politiker seine Sicht teilen, ganz unabhängig von den Interessen und Überzeugungen der Bevölkerungsmehrheit.
Würde die Ebene der Korruption für sich alleine funktionieren? Auf jeden Fall nicht so anhaltend und nicht in dieser Breite. Es gab bestimmte Bereiche, die immer anfällig waren, das Bauwesen und die Rüstungsindustrie; aber dass auf allen Ebenen eine bestimmte Position in einem Maße durchgesetzt wird, wie das im Zusammenhang mit Corona oder auch jetzt in Bezug auf die NATO der Fall ist, setzt eine Kombination all dieser Faktoren voraus, gefördert durch die weitgehende politische Inaktivität der Bevölkerung, demokratiewidrige Tendenzen in den Parteistrukturen und offene Korruption.
Das Gegenmittel? Das ist leider nicht käuflich zu erwerben. Solange die politische Vertretung durch den Filter der Parteien erfolgt, ist das einzige Gegenmittel ein hoher Anteil wirklich politisch engagierter Mitglieder in den Parteien, die nicht nach Zuneigung, sondern nach Kompetenz entscheiden und immer wieder von jenen, die sie vertreten sollen, Rechenschaft einfordern. Das ist in Parteien nicht anders als im kleinsten Verein. Es gibt hundert Kräfte, die demokratische Strukturen bis zur Unkenntlichkeit verzerren können. Aber es gibt genau eine, die dagegen wirkt: Rechenschaft einfordern.
Wetten, dass das alles keine Rolle spielen wird, wenn zur Rettung "unserer Demokratie" ein "Demokratieunterricht" eingeführt wird? Wenn man die Demokratie wirklich stärken wollte, müsste man über genau diese Dinge reden, und nicht über allgemeine "Werte", garniert mit ein paar Aussagen, wie toll doch alles in Deutschland ist.
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