Vorgezogene Neuwahlen: Das sind die Probleme
Klar, instinktiv denkt sich jeder, jetzt sollten die Bundestagswahlen möglichst schnell stattfinden. Aber es gibt eine Reihe technischer und rechtlicher Voraussetzungen, die nicht so einfach sind. Leider wird in der Berichterstattung selten erwähnt, wie diese Voraussetzungen aussehen.
Um zu wählen, braucht man Kandidaten. Diese Kandidaten werden von den Parteien aufgestellt. Dafür findet eine ganze Reihe von Versammlungen statt, bei den meisten Parteien in jedem Wahlkreis, bei allen aber auf Landesebene. Und bei allen Schritten gibt es Fristen zu beachten.
Fangen wir oben an: Parteien, die nicht im Bundestag vertreten sind, müssen ihre Beteiligung laut § 18 Bundeswahlgesetz "spätestens am siebenundneunzigsten Tag vor der Wahl bis 18 Uhr dem Bundeswahlleiter anzeigen". In der Regel ist es ratsam, diese Anzeige möglichst früh zu machen, da der Bundeswahlleiter womöglich etwas daran auszusetzen hat, und noch die Zeit da sein müsste, die nötigen Korrekturen vorzunehmen. Das bedeutet, vernünftigerweise müsste die Beteiligungsanzeige 111 Tage vor dem Wahltermin fertig sein. Das sind mehr als drei Monate.
Dann gibt es noch eine weitere Frist, § 19: Die Wahlvorschläge, für die Wahlkreise wie für die Landesliste, sind "spätestens am neunundsechzigsten Tag vor der Wahl bis 18 Uhr schriftlich einzureichen".
Nun gibt es eine kleine Kollision ‒ nach dem Wortlaut des Grundgesetzes muss eine Neuwahl spätestens 60 Tage nach der Auflösung des Bundestages stattfinden. Spätestens 21 Tage, nachdem ein Bundeskanzler an einem Misstrauensvotum gescheitert ist, muss der Bundespräsident den Bundestag auflösen. Die maximale Zeit zwischen Misstrauensvotum und Wahl beträgt also 81 Tage. Was bedeutet, sofern nicht mindestens zwei Monate vor der tatsächlichen Auflösung die Wahlvorbereitung in den Parteien beginnt, gibt es ein Problem.
Diese Fristen sind aber nicht alle, die es zu beachten gilt. Dazu kommen noch Fristen aus den Parteisatzungen. In der SPD ist beispielsweise vorgeschrieben, dass die schriftliche Einladung samt Tagesordnung mindestens eine Woche vor einer Versammlung zugehen muss. "Elektronische Zusendung ist zulässig." Aber: "Innerparteiliche Nominierungsverfahren von Kandidatinnen und Kandidaten für die Wahlen zu kommunalen Vertretungskörperschaften und Parlamenten sollen drei Monate vorher parteiöffentlich bekannt gegeben werden." Das wäre bei den Aufstellungsversammlungen für diese Wahlen mit Sicherheit schwer zu erreichen. 97 Tage für die Einreichung und 90 Tage für die Bekanntgabe, das gibt bereits 187 Tage, ein halbes Jahr...
Die Linke NRW hat übrigens in ihrer Landessatzung eine Ladungsfrist von mindestens 14 Tagen. Eine kürzere Frist ist nur zulässig, wenn eine Kreissatzung dies vorsieht. Da ist der Vorlauf für die Aufstellungsversammlung im Wahlkreis schon eine Woche länger.
Das sind aber nur die Wahlkreisaufstellungen. Bei den Landeslisten wird es noch komplizierter. Bei kleineren Parteien kann das eine landesweite Mitgliederversammlung sein ‒ bei größeren ist es eher eine Versammlung von Delegierten. Da hängt es wieder von der Satzung ab, ob es für einen längeren Zeitraum gewählte Delegierte gibt, die dann für die Aufstellung zusammengerufen werden, oder ob für die Aufstellung der Landesliste neue Delegierte gewählt werden müssen. Im letzteren Fall kommen zu der satzungsgemäßen Frist für die Ladung zur Aufstellung der Landesliste (die meist auf einem Parteitag erfolgt) auch noch die Fristen für die vorher erforderlichen Delegiertenwahlen... Das ist keine Fantasie: Die Satzung der Linken NRW beispielsweise verlangt für die Aufstellung der Landesliste eine Landesvertreterversammlung. Das bedeutet, es sind nicht die üblichen Parteitagsdelegierten, sondern es braucht tatsächlich eine spezifische Wahl für eben diese Versammlung.
Nicht zu vergessen ‒ spätestens auf der Ebene Landesparteitag lässt sich das schon technisch nicht so schnell organisieren. Denn Hallen, die dafür groß genug sind, und die nicht allzu schwer zu erreichen sind, gibt es nicht wie Sand am Meer.
Übrigens gilt für die Einreichung der Wahlkreis- wie der Landesvorschläge das Gleiche wie bei der Anzeige der Wahlteilnahme ‒ es ist ein Gebot der Vernunft, sie nicht im letzten Augenblick einzureichen, sondern möglichst früh, weil sonst mögliche Fehler ‒ und die gibt es immer ‒ nicht mehr rechtzeitig behoben werden können. So gibt es für das Protokoll der Aufstellungsversammlung Formulare, die richtig ausgefüllt werden müssen (und es ist daher oft ein Problem in Parteien, Mitglieder zu finden, die bereit sind, diese Versammlungen zu leiten und zu protokollieren).
Wobei schon die Einladung zur Aufstellungsversammlung nicht so einfach ist. Schließlich müssen alle im jeweiligen Wahlkreis stimmberechtigten Mitglieder fristgerecht geladen werden, sonst ist unter Umständen die ganze Versammlung ungültig. Wer jemals mit den Datenschutzregeln zu tun hatte, denen die Parteien heute unterliegen, erkennt schnell, dass auch dieser Schritt mühsam wird, weil die Person, die die Arbeit der Einladung übernimmt, womöglich gar keine Zugriffsrechte auf den Datenbestand hat.
Eine Bundestagswahl ist also ein großer bürokratischer Akt, und der Vorlauf ist beträchtlich. Wer je persönlich mit diesen Abläufen zu tun hatte und sich durch die entsprechenden rechtlichen Regelungen hindurchgraben musste, weiß, dass eine Auflösung des Bundestags allein wegen der Fristen frühestens in drei Monaten geschehen dürfte. Was die Beteiligten natürlich wissen. Forderungen, die Neuwahlen früher anzusetzen, sind folglich entweder politisches Theater oder zielen darauf, möglichst großes Chaos anzurichten.
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