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Hetze gegen Arme statt Feststimmung: Die weihnachtliche Charity-Fassade bröckelt

Von Susan Bonath

Aufrüstung, Inflation, Sozialabbau: Die deutsche Zeitenwende-Politik ist ein Motor für Armut, Abstiegsangst und Entsolidarisierung. Das zeigte sich deutlich in der diesjährigen Vorweihnachtszeit. Gewöhnlich entdeckt ein Teil des deutschen Kleinbürgertums in diesen Wochen sein Gewissen für Arme – oder will selbiges mit karitativer Großherzigkeit zumindest beruhigen. In diesem Jahr aber gehen Berichte über "Weihnachtsessen für Obdachlose" oder "Spendensammlungen für arme Kinder" vielfach unter.

Dominant in den Medien sind stattdessen die zunehmenden sozialen Verwerfungen: verwundert bis besorgt zur Kenntnis genommen, systemische Ursachen ausblendend, die Folgen beklagend und die Hauptschuld, mal offen, mal sehr versteckt, bei den Betroffenen selbst verortend, teils begleitet von Hetzkampagnen, deren Initiatoren diesmal auf die obligatorische Weihnachtspause verzichten. Denn es ist Wahlkampf.

Botschaft an Arme: Schämt euch!

Jeder könne durch Fleiß aufsteigen und zu Wohlstand gelangen, lautet bekanntlich die Kernbotschaft der neoliberalen Doktrinen des Westens an die Normalbevölkerung. Dass nicht alle aufsteigen können und von Geburt an Wohlhabende wesentlich im Vorteil sind, blendet die Propaganda genauso geflissentlich aus wie die Tatsache, dass besonders hart Schuftende, zum Beispiel Pflegekräfte und Paketfahrer, zwar unabkömmlich sind, aber von einem Aufstieg ohnehin nur träumen können.

Armsein gilt im spätkapitalistischen Konkurrenzturbo als Makel: Betroffenen lastet stets der Vorwurf des Faulseins an. Arme können im reichen Wertewesten keine Weihnachtsgeschenke kaufen? Selber Schuld! Für sie sei Weihnachten "ein Fest der Scham", erklärt der Deutschlandfunk in einem Beitrag. Zum Beispiel für "Anna", denn sie ist arm, muss zur Tafel – und schämt sich dafür.

Überlastete Wohltätigkeitsindustrie

Die Tafeln in Deutschland sind ein privates Charity-Modell, das vor über 30 Jahren wie vieles andere auch aus den USA nach Deutschland schwappte. Einst dafür gedacht, ein bisschen Herz für ein paar Tausend Obdachlose in deutschen Großstädten zu zeigen und sie mit gespendeten Lebensmitteln zu beglücken, mutierten sie spätestens mit der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 zu privaten Ersatzanlaufstellen für Menschen in existenziellen Notlagen, in die sie vor allem ein immer repressiver agierender Sozialstaat stürzte. Ihr Dachverband ist inzwischen wie ein Großunternehmen organisiert.

Seit Jahren beklagen die Tafeln zunehmende Überlastung. Corona verschärfte das Problem, nun lässt die drastische Teuerung bei Energie, Lebensmitteln und Mieten die Essensausgaben aus allen Nähten platzen: zu wenige Spenden für zu viele Bedürftige. Die meisten Tafeln müssen mal wieder rationieren, wie unter anderem der NDR berichtete.

Das Tafelkonzept hat eigentlich etwas Perverses: Supermärkte geben ab, was die Wohlstandsgesellschaft verschmäht, weil die Haltbarkeit zum Beispiel kurz vor dem Ablaufen ist. Die Tafeln verschenken das nicht etwa, sondern die "Kunden" müssen dafür einen Obolus entrichten. Um Kunde zu werden, müssen Betroffene ihre Bedürftigkeit nachweisen und meistens lange warten, bis ein "Platz" frei wird. Haben sie Pech, tritt das nie ein. Kurz gesagt: Private Charity-Unternehmen kontrollieren Einkommensnachweise und entscheiden, wer aussortiertes Essen für ein paar Euro erhält und wer nicht.

Miete zahlen oder Kühlschrank füllen

Das postulierte "Mitgefühl" mit den Armen schwindet allerdings mit der sichtbaren Zunahme ihrer Anzahl. Die Bettler und Obdachlosen sind inzwischen an den Bahnhöfen jeder beliebigen deutschen Großstadt nicht mehr zu übersehen. Armut wird zunehmend lästig in Deutschland, und der Gedanke daran, dass sie selbst nur einen Schicksalsschlag oder eine Massenentlassung davon entfernt sein könnten, verbannen viele wohl tief ins Unterbewusstsein.

Anders als mit kollektiver Verdrängung sind Studien wie die des Paritätischen Gesamtverbandes kaum zu erklären. "Wohnen macht arm", fand dieser kürzlich heraus. Man möchte zynisch rufen: Ach, wirklich? Dass die Mieten, Heiz- und Betriebskosten seit Jahren in die Höhe schnellen und seit dem Anschlag auf die Nordstream-Pipelines 2022 geradezu explodiert sind, ist schließlich kein Geheimnis. Auch ist bekannt, dass die Reallöhne seit Jahren nicht einmal mehr mit der Inflation mithalten und die Teuerung vor allem lebensnotwendige Güter betrifft: Energie, Nahrungsmittel, Mieten.

Der Paritätische spricht von "Wohnarmut". Soll heißen: Immer mehr Menschen müssen sich entscheiden, ob sie ihre Miete zahlen oder den Kühlschrank füllen. Junge Erwachsene können mangels bezahlbarer Angebote nicht bei ihren Eltern ausziehen, Alleinerziehende leben mit Kindern in viel zu kleinen Unterkünften, Rentner sparen sich die Butter vom Brot, um heizen zu können und Erwerbslose finden gar keine Bleibe mehr, die den realitätsfernen amtlichen Richtlinien auch nur annähernd entspricht.

Mehr Zwangsräumungen

Wenn die Fixkosten den Leuten über den Kopf wachsen, ist es kein Wunder, dass die Zahl der Zwangsräumungen wegen Mietschulden in die Höhe schießt. Die Bewohner von mehr als 30.000 Haushalten verloren deshalb im Jahr 2023 ihr Dach über dem Kopf, wie die Bundesregierung auf Anfrage der Linken zugeben musste. Wenig erstaunlich ist auch, dass die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) zu Beginn dieses Jahres 18 Prozent mehr Obdachlose zählte als im Vorjahr.

Hetzer im Wahlkampf

Weihnachten hin oder her, es ist Wahlkampf in Deutschland. Das neoliberale Establishment tut, was es immer tut: zum Hass gegen Arme aufstacheln. Friedrich (BlackRock) Merz, Kanzlerkandidat der Unionsparteien CDU und CSU, verortet die Schuld bei ihnen und behauptet, am Bürgergeld einen zweistelligen Milliardenbetrag sparen zu können.

Dafür schlug er unter anderem eine Wohnkostenpauschale vor, die freilich noch viel niedriger ausfallen würde, als die heutigen, individuell von den unter Sparzwängen stehenden Kommunen festgelegten Mietobergrenzen schon jetzt sind. Bedürftige würden so nicht nur in die Peripherie, sondern wohl gleich unter die Brücken verdrängt – sofern diese nicht wegen Einsturzgefahr gesperrt sind.

Dass auch rund eine Million Niedriglöhner mit Bürgergeld aufstocken müssen, ebenso viele Rentner und Erwerbsunfähige Grundsicherung benötigen, viele Bedürftige psychisch und physisch so angeschlagen sind, dass sie kaum arbeiten können und die Wirtschaftskrise die Arbeitslosigkeit weiter hochtreiben wird, interessiert den Millionär nicht. Offensichtlich wünscht er sich Zustände in Deutschland, wie man sie in den USA seit Längerem beobachtet: wachsende Slums am Rand jeder größeren Stadt.

Sündenböcke für Deindustrialisierung

Merz und seine CDU-Kollegen sind freilich nicht die Einzigen, die Hetzkampagnen gegen Arme und Arbeitslose anstacheln. Die Pseudofrage, ob Sozialleistungen wie das 2023 in Bürgergeld umbenannte Hartz IV "faul und träge machen", diskutieren die Medien seit Langem, und je stärker die Wirtschaft kriselt, desto lauter, verlogener und bedrohlicher. Genauso gut könnte man zur Diskussion stellen, ob Bundestagsmandate faul und träge machen.

Diesmal ist die Krise wirklich ernst: Die Wirtschaft schreit nach Staatshilfe (die den Armen am liebsten verwehrt wird), die neoliberalen Marktesoteriker rufen nach Deregulierung, und seit Monaten gilt die real existierende Deindustrialisierung nicht mehr als "Verschwörungstheorie".

Dafür, dass die Industrie, nicht zuletzt dank der irrationalen deutschen Sanktionspolitik, nun in ärmere Länder mit günstigeren Energiepreisen und besseren Ausbeutungsbedingungen abwandert, sofern sie nicht ganz pleitegeht, können die (inklusive Kinder) knapp sechs Millionen Bürgergeldbezieher, elf Millionen Armutsrentner und 6,5 Millionen Niedriglöhner in Deutschland am allerwenigsten. Sie aber will die Politik nun für ihr Versagen büßen lassen: mit weiteren Sozialkürzungen, die letztlich – gewollt – ein Maulkorb für alle Lohnabhängigen sind.

Küchenpsychologen sinnieren über Armut

Tiefergehende Analysen über die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die Armut produzieren, sucht man in den deutschen Medien allerdings vergeblich. Stattdessen kam das ZDF kürzlich mit bürgerlicher Küchenpsychologie um die Ecke: Depression macht arm, Armut macht depressiv – wie bringt man solche Problemfälle wieder auf Trab?

Zwischen Hetzkampagnen und zunehmend widerwilligen karitativen Verrenkungen, die schleichend in Wut auf die wachsende Zahl der Armen selbst umschlägt, wird das Problem Armut nun also – man kennt das schon – individualisiert und psychologisiert: Kann ja keiner was dafür, dass ihr arm seid. Ihr könntet euch ja auch mehr anstrengen. Vielleicht helfen ein paar Pillen?

Zeitenwende lässt Charity-Fassade bröckeln

Antidepressiva helfen hier ganz sicher nicht. Jedenfalls nicht gegen die politisch gewahrten und zunehmend ungleichen wirtschaftlichen Eigentumsverhältnisse, nicht gegen die zunehmende Monopolisierung von Kapital und Macht, nicht gegen die Abhängigkeit der Massen von Großkonzernen, die letztlich jeden rauswerfen können, den sie für nicht mehr nützlich genug halten, und schon gar nicht gegen Hetzkampagnen, die Armen die Schuld an allen Verwerfungen zuschieben und sie zu Sündenböcken erklären.

Dass die Fassade der Nächstenliebe nicht einmal mehr in der Weihnachtszeit einen frischen Kurzzeitanstrich bekommt, zeigt, wie dünn sie war, und wie verlogen. Und dass die Zeiten härter werden, dies sogar mit Ansage. Die beschworene "Zeitenwende" bedeutet zuallererst wohl einen Krieg gegen die Armen zugunsten der Profite, vor allem für die Rüstungsindustrie. Es wird sich zeigen, ob der Krieg bald auch in Deutschland mit Waffengewalt ausgetragen wird.

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