Nahost-Krieg seit 100 Tagen: Das könnte Netanjahu teuer zu stehen kommen
Vor 100 Tagen starteten Hamas-Terroristen einen Großangriff auf Israel. Die Antwort der israelischen Armee fiel verheerend aus. Netanjahu gerät zunehmend in die Kritik. 100 Tage ist es her, als zahlreiche Hamas-Terroristen den Zaun von Gaza nach Israel durchbrachen. Sie töteten mehr 1.200 Israelis, folterten und verletzten Tausende Menschen und entführten Hunderte Zivilistinnen und Zivilisten als Geiseln in den Gazastreifen. Seitdem schießen die Hamas und ihre verbündeten Terrororganisationen und extremistischen Milizen in den Nachbarländern Israels unentwegt Raketen auf den jüdischen Staat. Handelsschiffe im Roten Meer werden durch die Huthi-Rebellen aus dem Jemen terrorisiert. Israels Armee hat indes einen Großteil des Gazastreifens in Schutt und Asche gelegt. Mehr als 23.000 Menschen wurden nach Angaben des Hamas-Gesundheitsministeriums bisher getötet, etwa 70 Prozent davon Frauen und Minderjährige. Nach UN-Angaben wurden zudem 360.000 Wohneinheiten zerstört oder beschädigt. Dies bedeute, dass mehr als eine halbe Million der 2,2 Millionen Einwohner des Küstengebiets kein Heim mehr hätten, in das sie nach dem Krieg zurückkehren könnten.Die humanitäre Lage in dem schmalen Küstenstreifen ist katastrophal – doch ein Ende der Kämpfe ist vorerst nicht abzusehen. Ein Überblick über den aktuellen Stand des Krieges:Große VersprechenIsraels Regierung hatte der Bevölkerung versprochen, die Hamas im Gazastreifen auszulöschen und die Geiseln, die die Terrororganisation am 7. Oktober gefangen genommen hat, zu befreien. Doch auch mehr als drei Monate nach dem Massaker der Hamas halten die Terroristen noch 136 Menschen in ihrer Gewalt. Von den 105 Geiseln, die während einer einwöchigen Feuerpause im November im Gegenzug für 240 palästinensische Häftlinge freigekommen waren, beschreiben viele grauenhafte Bedingungen während ihrer Gefangenschaft. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu könnten seine Versprechen teuer zu stehen kommen: Tausende Menschen forderten bei einem Protest am Samstagabend in Tel Aviv seinen Rücktritt. Nach Ansicht der israelischen Forscherin Idit Shafran Gittleman, die sich mit Kriegsethik befasst, hat die Regierung in Jerusalem der Öffentlichkeit zu große Versprechungen gemacht. "Je mehr Zeit vergeht, desto mehr versteht die Öffentlichkeit, dass diese Fantasie offenbar nicht umzusetzen ist", sagt die Expertin.Experte sieht Teilerfolg IsraelsDer Militärexperte Ofer Schelach vom Institut für Nationale Sicherheit (INSS) in Tel Aviv spricht von Teilerfolgen Israels. Er sieht die Hamas als regierende Kraft im Gazastreifen bereits als gestürzt an. "Die Hamas kontrolliert den Gazastreifen nicht mehr", sagt Schelach. Die militärische Bedrohung Israels durch die Hamas sei allerdings nicht vollständig gebannt. Schelach warnt davor, dass Israel im Gazastreifen "versinken" könnte wie im Süden Libanons in den Jahren nach dem Krieg 1982.Wegen der massiven Angriffe im Gazastreifen hat Südafrika Israel inzwischen vor dem Internationalen Gerichtshof vorgeworfen, systematisch völkermörderische Handlungen begangen zu haben. Es fordert einen sofortigen Rechtsschutz für die Palästinenser. Sollten die Richter etwa das Ende der militärischen Handlungen anordnen, würde dies Israel massiv unter Druck setzen. Mehr zu dem Prozess vor dem UN-Gericht lesen Sie hier.Hamas-Führungstrio noch nicht gefasstAus Israels Sicht wäre es ein demütigender Sieg der Hamas, wenn es seine Armee vor dem Erreichen seiner Hauptziele wieder abziehen müsste. "Wir haben es bisher nicht geschafft, das Führungstrio auszuschalten", sagt etwa der INSS-Leiter und Ex-Chef des Militärgeheimdienstes, Tamir Hayman, mit Blick auf die Hamas-Anführer Jihia al-Sinwar, Mohammed Deif und Marwan Issa.Das Ausmaß des unterirdischen Tunnelsystems der Hamas, in dem die Führungsspitze sich versteckt hält, ist noch viel größer, als Israel es erwartet hatte. Hayman äußert die Sorge, die Hamas könnte die Herrschaft erneut ergreifen, sollte nach dem Krieg Chaos herrschen oder eine schwache Alternative eingesetzt werden.Was, wenn der Krieg endet?Genau deshalb drängen die USA als Verbündete Israels schon seit langem auf eine Debatte über den "Tag danach" im Gazastreifen. Israel hat aber bisher keinen Fahrplan vorgelegt, der nicht mit den Vorstellungen Washingtons kollidiert. Angesichts der katastrophalen humanitären Lage im Gazastreifen bringt das die USA und andere Verbündete Israels immer stärker in die Kritik. US-Präsident Joe Biden, der sich zu Beginn des Kriegs ganz klar an Israels Seite gestellt hatte, verliert auch unter den jüngeren Anhängern seiner Partei Unterstützung – und das im kritischen Wahljahr 2024.Newsblog zum Krieg in Nahost: Alle aktuellen Entwicklungen lesen Sie hierDie US-Regierung will, dass eine reformierte Palästinensische Autonomiebehörde, deren Sitz in Ramallah liegt, nach dem Krieg auch die Kontrolle im Gazastreifen übernimmt. Dies lehnt der rechtskonservative Netanjahu jedoch strikt ab. Es werde weder ein "Hamastan" noch ein "Fatahstan" im Gazastreifen geben, sagte er mit Blick auf die Hamas und die Fatah-Organisation. An der Spitze der Autonomiebehörde steht der gemäßigtere palästinensische Präsidenten Mahmud Abbas. Netanjahu wirft der Fatah jedoch vor, ebenfalls zu Terror gegen Israel aufzuwiegeln. Eine klare Mehrheit der Palästinenser ist für den bewaffneten Kampf gegen die israelische Besatzung.Netanjahu pocht darauf, dass Israel die Sicherheitskontrolle im Gazastreifen auch nach Kriegsende behalten wird. Er strebt zudem eine permanente Präsenz Israels an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten an, um Waffenlieferungen in den Küstenstreifen über die Sinai-Halbinsel künftig zu unterbinden. Außerdem will Israel entlang seiner Grenze zum Gazastreifen eine Sicherheitszone mit einer Breite von etwa einem Kilometer einrichten.Die USA versuchen nun offenbar, eine regionale Lösung zu finden: US-Außenminister Antony Blinken sagte bei seinem Besuch in der Region, es gebe weiterhin ein klares Interesse Saudi-Arabiens an einer Annäherung an Israel. Eine Bedingung für eine solche Vereinbarung, die aus Sicht Netanjahus ein Riesenerfolg wäre, sei jedoch ein "praktischer Weg zu einem palästinensischen Staat".Der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober galt als Versuch, der geplanten Annäherung den Todesstoß zu versetzen. Ein Bündnis Saudi-Arabiens und Israels wäre aus Sicht der Hamas, der libanesischen Hisbollah sowie ihrer Schutzmacht, dem islamischen Regime im Iran, zu ihrem großen Nachteil. Mehr dazu lesen Sie hier.Rechtsextreme machen Druck auf NetanjahuEine Mehrheit der Israelis lehnt inzwischen eine Zweistaatenlösung ab. Viele befürchten, es könnten sonst auch aus dem von Israel völkerrechtswidrig besetztem Westjordanland künftig Raketen auf israelische Orte hageln. Außerdem argumentieren manche, ein unabhängiger Staat – ausgerechnet nach dem beispiellosen Massaker vom 7. Oktober – komme einer Belohnung dafür gleich.Rechtsextreme Mitglieder von Netanjahus Regierung streben sogar eine israelische Wiederbesiedlung des Gazastreifens nach dem Krieg an. Israel hatte sich 2005 aus dem Gebiet zurückgezogen und mehr als 20 völkerrechtswidrig errichtete israelische Siedlungen geräumt. Der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich spricht nun von einer "freiwilligen Auswanderung" der palästinensischen Bevölkerung. Die USA lehnen eine Zwangsvertreibung aus dem Gazastreifen entschieden ab.Auch Netanjahu schloss eine dauerhafte Besetzung des Gazastreifens jüngst erstmals klar aus: "Ich möchte einige Punkte absolut klarstellen: Israel hat nicht die Absicht, den Gazastreifen dauerhaft zu besetzen oder die Zivilbevölkerung zu vertreiben", erklärt Netanjahu auf der Social-Media-Plattform X. Obwohl dies die offizielle Politik Israels ist, waren Netanjahus frühere Äußerungen zur dauerhaften Besetzung des Gazastreifens widersprüchlich und mitunter undurchsichtig.Sorge vor größerem regionalen KriegSeit Beginn des Kriegs gegen die Hamas wird Israel auch massiv von anderen Kräften angegriffen, die zur sogenannten "Achse des Widerstands" gehören, die der Iran als Erzfeind des jüdischen Staates aufgebaut hat. Die libanesische Terrororganisation Hisbollah liefert sich immer heftigere Gefechte mit der israelischen Armee in der Grenzregion. Auch die Huthi-Rebellen im Jemen greifen Israel mit Raketen sowie Drohnen an und stören den internationalen Schifffahrtshandel mit regelmäßigen Angriffen.In der Nacht zum Freitag regierten die USA und Großbritannien darauf, indem sie mit Unterstützung der Niederlande, Kanadas und Bahrains Stellungen der Huthi im Jemen attackierten. Eine auch von Deutschland mitgetragene Erklärung begründet den Militärschlag auch mit dem Recht auf Selbstverteidigung. Ein Vertreter der Huthi drohte Vergeltung an. Mehr zu den Huthis lesen Sie hier.Die Sorge vor einer schrittweisen Eskalation in einen regionalen Krieg ist groß. Bei seiner Amtsübernahme sagte der neue israelische Außenminister Israel Katz kürzlich, sein Land sei schon "mitten in einem Dritten Weltkrieg" gegen den Iran und den radikalen Islam.