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Über den Kopf gewachsen: Proteste gegen ein Wohnungsbauprogramm

Der Inbegriff modernen Wohnens? Diese Häuser in Moskau haben 16 Stockwerke. (Foto: Tino Künzel)

Wenn sich Russlands Bürger nicht mehr zu helfen wissen, dann zeichnen sie ein Video an Wladimir Putin auf. Damit zeigen sie einerseits, dass es ihnen ernst ist. Andererseits sind sie mit ihren Möglichkeiten ja tatsächlich schnell am Ende.

In den letzten Wochen und Monaten waren unter denen, die sich vom Präsidenten ein Machtwort erhofften, Einwohner von Tjumen, Rjasan und Nowosibirsk, die ein gemeinsames Anliegen verband: Putin möge das Gesetz über die Komplexe Flächenentwicklung (KRT) stoppen. Unterzeichnet hatte der russische Staatschef die von der Duma beschlossene Novelle Ende 2020. Nun kommen die Auswirkungen allmählich bei der Bevölkerung an. Viele spüren am eigenen Leib, was das für sie bedeutet, und sind geschockt.

Nach Moskauer Beispiel

Dabei soll mit KRT eigentlich die Lebensqualität massiv steigen. Große, zusammenhängende Flächen mit baufälligem oder zumindest altersschwachem Wohnraum fallen darunter. Gemeint sind zuvorderst die sogenannten Chruschtschowkas, einfache sowjetische Häuserblocks aus den Jahren 1957 bis 1970, typischerweise fünf Stockwerke hoch. Der damalige Parteichef Nikita Chruschtschow hatte dem Land diesen Massenwohnungsbau verordnet, Millionen bezogen in der Folge erstmals eine eigene Wohnung. Doch gebaut waren diese Häuser nicht für die Ewigkeit. Viel Platz boten sie auch nicht, besonders eng ging es in der Küche mit ihren rund sechs Quadratmetern zu.

In Moskau wurde deshalb bereits 2017 verkündet, sie komplett abzureißen. Auf rund 8000 Häuser erstreckte sich das als Renova­tion bezeichnete Programm. Wenn sich die Hausgemeinschaft nicht kollektiv dagegen sträubte, wurden die Bewohner in frisch errichtete neue Häuser umgesiedelt.

Spätestens an dieser Stelle nahm das Ganze eine fatale Wendung. Denn statt dem Gigantismus der Vergangenheit abzuschwören, setzten die beteiligten Baufirmen im Einvernehmen mit der Stadt noch einen drauf. Statt ihrer zwar abgewohnten Fünfgeschosser, wo man aber immerhin alle Nachbarn kannte und den ruhigen, begrünten Hinterhof zu schätzen wusste, wohnten die Umsiedler ab sofort in Zehn- oder auch Zwanziggeschossern.

Scheinbar ein Segen

Doch offenbar wurde das Programm als großer Erfolg bewertet und soll nun in ganz Russland Schule machen. Die Idee: Baufirmen erhalten über eine Auktion den Zuschlag, ganze Viertel „komplex“ zu entwickeln: alten Wohnraum abzureißen und stattdessen neuen zu bauen, nebst sozialer Infrastruktur von der Schule bis zur Sporthalle. Dabei sollte es eigentlich nur Gewinner geben: Die Städte delegieren, was ihren Haushalt überfordern würde. Die Investoren verdienen sich über kurz oder lang eine goldene Nase. Unattraktive Flecken verwandeln sich in helle, moderne Wohngegenden.

Doch seit geraumer Zeit sind vor allem die Online-Medien voll von Erfahrungsberichten betroffener Bürger. Und die klingen nicht gut. Von Rechtlosigkeit ist da die Rede: Bewohner solcher Flächen, die in der Regel auch Wohnungseigentümer sind, werden nicht gefragt, ob sie überhaupt wegwollen. Meist erfahren sie von den Plänen überhaupt erst aus der Zeitung. Dann wird ihnen ein sogenannter Marktpreis für ihre Wohnung gezahlt. Mit dem Geld können sie sich keine vergleichbare Neubauwohnung leisten.

Kritisiert wird auch die Unschärfe der gesetzlichen Bestimmungen. Wann ist denn Wohnraum „alt“? In vielen Fällen droht auch Häusern der Abriss, die noch gut in Schuss sind, und beispielsweise im westsibirischen Tjumen sogar Eigenheimen.

Unzufriedenheit in ganz Russland

In St. Petersburg zogen Aktivisten vor Gericht und verklagten Gouverneur Alexander Beglow: Damit wollten sie erreichen, dass das KRT-Gesetz in der Stadt für ungültig erklärt wird, schließlich sollten sich damit die Wohnbedingungen der Menschen verbessern und nicht verschlechtern, die Realität sähe aber anders aus. Der Oberste Gerichtshof wies die Klage als gegenstandslos ab, nachdem St. Petersburg das Gesetz wegen der allgemeinen Unzufriedenheit im vergangenen Herbst bis 2025 ausgesetzt hatte.

Aber auch anderswo schlagen die Wellen seit Monaten hoch. In Archangelsk gingen noch im Dezember Menschen gegen die KRT auf die Straße, was in Russland durchaus Seltenheitswert besitzt. In Krasnojarsk kamen Autoaufkleber mit der Aufschrift „KRT=Genozid“ in Mode. Die Internet-Zeitung „NeMoskva“ berichtete vom Viertel Schlakowy in Rjasan, dessen Bewohner wehmütig an die sowjetischen Zeiten zurückdenken, als es dort nur Zwei- und Fünfgeschosser gab. In Kürze werden drei 25-etagige Häuser entstehen.

Die KRT sei ein „Problem von landesweitem Maßstab“, zitiert „NeMosvka“ die Petersburger Juristin Jekaterina Gulenkowa. „Die Baufirmen haben ein Instrument in die Hand bekommen, das es erlaubt, nicht nur Städte kaputtzumachen, sondern auch menschliche Schicksale.“

Tino Künzel

Запись Über den Kopf gewachsen: Proteste gegen ein Wohnungsbauprogramm впервые появилась Moskauer Deutsche Zeitung.

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