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Russland, wie es im Buche steht

Er hat einen ersten Eindruck gewonnen, sagt René Jakob nach zwei Wochen Russlandreise immer wieder. Seine ersten Eindrücke sind aber etwas ganz Besonderes. Denn Russland hat der Deutsche auf sehr spezielle Weise bereist.

Запись Russland, wie es im Buche steht впервые появилась Moskauer Deutsche Zeitung.

Russische Holzhäuser, aus dem Zug fotografiert (Foto: René Jakob)

Was muss der Moskau-Besucher unbedingt gesehen haben? Ungefähr 100 Prozent aller Touristen antworten an dieser Stelle im Chor: den Kreml und den Roten Platz. Auch René Jakob ist an den drei Tagen, die er dieses Frühjahr in Moskau verbracht hat, in die Nähe dieser Top-Sehenswürdigkeiten gekommen, hat sie aber mehr oder weniger links liegen lassen. Solche ausgetretenen Pfade interessieren ihn nicht. Zumindest können sie warten. In den 16 Tagen, auf die das russische E-Visum einen Aufenthalt begrenzt, hatte er Besseres zu tun.

René Jakob wurde vor 37 Jahren im sächsischen Roßwein geboren. Er hat Geschichte studiert, arbeitet heute in der Landwirtschaft. In Russland war er zum ersten Mal. Warum, das ist gar nicht so leicht zu erklären, denn vordergründig verbindet ihn nichts mit dem Land. Er spricht noch nicht einmal Russisch. Und doch war da schon immer die Wunsch, die Schauplätze zu besuchen, die in russischer Literatur beschrieben werden. Wie könne man sich wohl in Tschechows „In Sibirien“ hineindenken und -fühlen, ohne wenigstens einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn gefahren zu sein? Oder Turgenjews „Aufzeichnungen eines Jägers“. Oder Gogol. Die Landschaften, die Entfernungen, die untouristische Seite Russlands – das hat Jakob in erster Linie gereizt. Also nichts wie hin.

Fünf Stunden Warten an der Grenze

Dass allein schon die Anreise heutzutage nicht ganz einfach ist, dürfte sich herumgesprochen haben. René Jakob setzte sich in Riga in einen Bus nach Moskau. An der lettisch-russischen Grenze ging es fünf Stunden nicht weiter. Auf der russischen Seite wurden die Businsassen nicht nur kontrolliert, Ausländer mussten auch einen Fragebogen ausfüllen, mit dem unter anderem politische Ansichten abgefragt wurden. Zum Glück gab es da einen Busnachbarn, der Englisch sprach und beim Ausfüllen half, erzählt Jakob.

Erkundete Russland auf seine Art: René Jakob (Foto: Tino Künzel)

Und so bekam die MDZ-Redaktion in den darauffolgenden Tagen völlig unverhofft Besuch von einem treuen Leser. Wobei unsere Zeitung nicht das einzige deutschsprachige Auslandsmedium ist, das der Sachse liest. Das mag daran liegen, dass seine Urgroßeltern aus Schlesien stammten. Im Zweiten Weltkrieg verschlug es sie nach Sachsen, das ist Teil der Familiengeschichte und hat auch die Reisen des Urenkels in eine bestimmte Richtung gelenkt. Auf den Spuren deutscher Minderheiten hat der nämlich schon halb Europa durchkämmt, war beispielsweise in Siebenbürgen, aber auch in ehemals deutsch besiedelten Gebieten in Slowenien, Tschechien und Polen. Nun wollte er die einstige deutsche Autonomie an der Wolga in Augenschein nehmen.

Moskau ist ihm zu glatt

Aber zunächst: Moskau. Hauptsächlich zu Fuß, aber auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln durchstreifte Jakob mal zentrale, oft aber auch weiter draußen gelegene Stadtteile, speiste im Kloster, schaute beim evangelischen Gottesdienst in der Deutschen Botschaft vorbei und machte die eine oder andere Entdeckung auch dank der MDZ: „Sonst wäre mein Moskau-Aufenthalt nicht so spektakulär geworden.“

Von Moskau habe er einen „ersten Eindruck“ gewonnen, sagt Jakob. Die Metro sei ein „absoluter Höhepunkt“ und die Stadt „extrem sauber, extrem gut organisiert“, aber auch „herausgeputzt bis zum Letzten“ und fast schon „totrenoviert“. Nichts wirke mehr individuell, zu vieles korporativ.

Gedanken um das deutsche Erbe

Die Reise ins Wolgagebiet hat sich für René Jakob „absolut gelohnt“ – schon wegen der Wolga selbst, die nördlich von Saratow einige ihrer schönsten Flecken hat. Und weil er nun Gerhard Sawatzkys Wolgadeutschen-Roman „Wir selbst“ mit ganz anderen Augen lesen kann, auch wenn es natürlich nur „erste Eindrücke“ waren, die er auf Abstechern von Saratow nach Sorkino (früher Zürich) und Podstepnoje (Rosenheim) gesammelt hat. In beiden Dörfer stehen lutherische Kirchen: die eine nach Originalentwürfen wiederaufgebaut, die andere dem Verfall preisgegeben.

Beim Umgang mit solchem deutschen Erbe hat er anderswo in Europa einen einsetzenden Bewusstseinswandel festgestellt: dass nämlich die heutigen Bewohner von ehemals deutsch besiedelten Gebieten anerkennen, dass es ein Leben vor ihnen gab, und einen sorgsamen Umgang mit dem pflegen, was davon übriggeblieben ist. An der Wolga, so zumindest ein „erster Eindruck“, sei man von diesem Gedanken allem Anschein nach noch „weit entfernt“.

Wanderung zum Dostojewski-Museum

Auf der Rückfahrt von Saratow ist René Jakob zwei Stationen vor Moskau ausgestiegen, in Usunowo, wo die Vorortzüge aus Moskau enden. Sein Ziel: ein historisches Landhaus in Darowoje, einem Dorf in der Moskauer Region. Dort hat der Schriftsteller Fjodor Dostojews­ki Teile seiner Kindheit verbracht.

Hier geht’s lang zum Landgut der Dostojewskis (Foto: René Jakob)

Man ahnt, dass die stundenlange Wanderung von der Bahnstation über Feld- und Waldwege und mit dem Rucksack auf dem Rücken für Jakob der denkwürdigste Teil seiner gesamten Russlandreise gewesen sein muss. Nicht dass es unterwegs etwas zu sehen gegeben hätte, was üblicherweise in Reiseführern zu finden ist. Dennoch empfand er die Tour als „abwechslungsreich“ und die Landschaft als „fantastisch“. Man sei auf dem Holzweg, wenn man Ebene erwarte. „Viele denken, es ist flaches Land, aber das stimmt ja nicht. Man bekommt immer wieder schöne Ausblicke geboten.“ Und alles sei natürlich „dreimal so weit entfernt wie bei uns“.

Mit Vorortzug und -bus über Land

Auf seiner letzten Etappe in Russland hat René Jakob dann noch das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden. In der MDZ war er auf einen Nostalgiezug von Bologoje nach Ostaschkow in der Region Twer aufmerksam geworden. Und so legte er einen Teil der Rückreise Richtung Baltikum in hübsch restaurierten Vorortwaggons aus Sowjetzeiten und mit einer vorgespannten Dampflok zurück. „Am Bahnsteig wird richtig getutet, es steigt Dampf auf und den riecht man auch“, berichtet er. Im Gegensatz zu vielen Retrobahnen in Deutschland gehe die Fahrt hier nicht über Schmalspur-, sondern Normalspurgleise. Deshalb sei auch die Dampflok „riesig“.

Zwei Zugwagen und eine Dampflok: So historisch fährt man in der Region Twer auf einer Nebenstrecke. (Foto: René Jakob)

Ostaschkow am Seligersee hat sich Jakob für ein andermal vorgemerkt. Und dann ist er auch noch mit einem typisch russischen Nahverkehrsbus der Marke PAZ der Grenze entgegengefahren. Ein letzter „erster Eindruck“: „Der Fahrer saß vorn in seinem Reich und hat es sich gemütlich gemacht. Hinten hatten die Fenster Gardinen. Jeder russische Bus muss Gardinen haben, am besten mit Spitzenrand.“

Tino Künzel

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