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Der Blick hinter die Fassade: Erlebnisse in der Sowjetunion, Teil zwei

Damals wie heute die Schaltzentrale von Russland: der Moskauer Kreml im Jahr 1975 mit dem wohl größten Busparkplatz des Landes davor (Foto: Thomas Hammond)

Am nächsten Tag erfuhr ich, wie stark sich der Mangel an Wohnraum bemerkbar macht. Iwan, ein gewöhnlicher Fabrikarbeiter von etwa 30 Jahren, erklärte sich bereit, mir die Wohnung zu zeigen, die er mit seiner Familie bewohnte.

Wir liefen an einem der größten Prospekte von Moskau entlang zu einem Gebäude, dessen Fassade durchaus repräsentativ aussah. Doch die Hofseite bot ein anderes Bild. Das eine Ende des Hofs war voller Müll, das andere voller Regenwasser. Durch die Pfützen ging es Richtung Kellergeschoss.

Vom Leben auf engstem Raum

Die „Wohnung“ bestand aus einem einzigen Zimmer von ungefähr 15×30 Fuß Fläche (4,5×9 Meter). An der einen Wand standen zwei eiserne Betten, die andere war mit einem weiteren Bett, einem schmucklosen Holztisch und einer Kommode zugestellt. Eine Ecke diente als Abstell- und Kleiderkammer und war mit einem Vorhang abgetrennt. Das einzige Fenster im oberen Teil einer Wand vervollständigte die bedrückende Szenerie. „Wir sind hier vor 25 Jahren eingezogen, als ich noch ein Kind war“, sagte Iwan, „und wir sind immer noch hier.“

Im Korridor befanden sich eine kleine Küche und die Toilette. Außerdem zierte den Flur ein Waschbecken. „Das alles teilen wir uns mit zwei weiteren Familien. Keiner kümmert sich groß um Sauber­keit, denn alle denken, dass die anderen Familien sowieso wieder alles verdrecken.“ – „Habt ihr denn keine Badewanne?“ – „Wir nutzen die öffentliche Banja eine Straße weiter.“ – „Und die im Bau befindlichen neuen Häuser? Bekommt ihr da eine Wohnung?“  – „Ich hoffe es“, sagte Iwan, „aber es gibt auch Familien, die noch schlechter dran sind als wir. Die Bevölkerung von Moskau ist seit der Revolution stark angewachsen. Und viele Gebäude wurden im Krieg zerstört.“

Als ich Iwan einen Tag später wiedertraf, war seine Miene finster. „Es wird besser sein, wenn wir uns nicht mehr sehen“, sagte er. „Gestern Abend hat mich mein Nachbar gefragt, wieso ich einen Ausländer ins Haus gebracht habe. Das Risiko ist mir zu groß.“

Amerika muss sich warm anziehen

Auf dem Rückweg zum Hotel habe ich die Rolltreppe hinunter zur Metro genommen. Die Moskauer Metro wurde in den 1930er Jahren eröffnet und ist für ihre Schönheit bekannt. Die Stationen funkeln vor lauter Marmor, Glas, Skulpturen, Mosaiken und künstlicher Beleuchtung.

An meiner Station trat ein Mitarbeiter an mich heran und fragte: „Ist die Metro in New York auch so schön wie unsere?“ Ich nehme an, er wusste die Antwort bereits. „Nein, die New Yorker Metro ist überhaupt nicht schön.“ Sein Gesicht hellte sich auf. „Aber“, fuhr ich fort, „sie hat mehr als 400 Stationen und nicht 46 wie eure.“ Er antwortete, irgendwann werde die Moskauer Metro 500 Stationen haben. „Und alle werden so schön sein wie diese hier.“

Ich bin oft Zeuge davon gewesen, wie sowjetische Staatsbürger sich stolz über die Errungenschaften ihres Landes geäußert haben, verbunden mit der Entschlossenheit, die Vereinigten Staaten zu übertrumpfen. Sie bewerten alles aus dem Blickwinkel der Konkurrenz der beiden Systeme.

Sonnenhungrige und Bademode an einem Moskauer Sommertag des Jahres 1964 (Foto: Thomas Hammond)

Glücksspiel mit staatlichem Segen

Einmal beobachtete ich Tausende Moskauer dabei, wie sie sich für etwas begeisterten, das ich in Russland am allerwenigsten erwartet hätte: Pferderennen. An jenem Sonntag wurden im Hippodrom sowohl Galopp- als auch Trabrennen veranstaltet. Und nicht nur Rennen: Zu meinem Erstaunen konnte auch gewettet werden.

Ich nahm auf einer Bank Platz, während ringsum die Fans der Pferdrennen das Teilnehmerfeld des nächsten Starts studierten und die Hoffnung kaum verbergen konnten, einen schönen Profit einzuheimsen. Neben mir saß ein freundlicher älterer Gentleman mit grauem Schnauzbart, in Reithosen und Lederstiefeln. „Die Pferderennen sind nicht dazu da, das Glücksspiel zu fördern“, erklärte er. Es gehe vielmehr darum, die besten Pferderassen aufzuziehen, auszubilden und zu erproben. „Aber wozu braucht die Regierung schnelle Pferde, wenn nicht für Rennen?“, entgegnete ich. „Sie werden ja wohl kein Rennpferd vor einen Pflug spannen.“

„Vielleicht haben Sie recht“, meinte er lächelnd. „Der wirkliche Grund könnte darin liegen, dass der Staat an den Wetten mitverdient. Außerdem sind Pferderennen sehr beliebt, darunter auch bei einigen hochgestellten Personen.“ […]

Auf der Tribüne der Moskauer Pferderennbahn wird mitgefiebert. (Foto: Thomas Hammond)

Falsche Töne im Jazzkonzert

Von Leonid Utjossow und seinem Jazz-Orchester hatte ich schon viel gehört, als ich eines Abends zu seinem Auftritt ging. Die Russen bezeichnen ihn als „estradny“, also als Unterhaltungsmusiker, denn Jazz wird offiziell als dekadent missbilligt. Trotzdem fanden sich im Programm auch amerikanische Songs wie „The Breeze and I“, „After You’ve Gone“, „When Johnny Comes Marching Home“ und „Goodnight, Sweetheart“. Allerdings bekannte Utjossow nur ein einziges Mal, dass er eine amerikanische Melodie sang. „Und jetzt, Genossen“, kündigte er an, „stellen wir Ihnen eine echte amerikanische Komposition vor, das ,Lied der amerikanischen Arbeitslosen‘. Die Übersetzung entspricht eins zu eins dem Original.“

Utjossow setzte sich einen alten Filzhut auf, versenkte die Hände in den Hosentaschen, machte ein trauriges und hoffnungsloses Gesicht und stimmte ein altes Lied aus der Zeit der Depression an: „Brother, Can You Spare A Dime?“ So funkte die Propaganda sogar ins Programm einer Jazzband. […]

Die Kommunisten von morgen

In vielerlei Hinsicht ist das Beste in der Sowjetunion den Kindern vorbehalten. Man sieht Eltern in alter, verblichener Kleidung mit Kindern, die hell und auffällig gekleidet sind. Das Sowjetregime hält es in seiner Politik ähnlich, um treue Anhänger des Kommunismus zu erziehen.

In der Sowjetunion sind Boy- und Girlscouts verpönt. Stattdessen wurden zwei kommunistische Jugendorganisationen eingerichtet: die „Pioniere“ für Kinder von 9 bis 14 Jahre und die „Komsomolzen“ für Jugendliche von 15 bis 28 Jahre. In den meisten Städten bestehen großangelegte Kinderklubs, die als „Pionierpaläste“ bezeichnet werden, und viele Kinder verbringen ihre Sommerferien in erschwinglichen Pionierlagern.

Ich habe solch ein Lager in der Nähe von Swenigorod besucht, etwa 30 Meilen westlich von Moskau. Dort gab es ein Märchendorf mit einem winzigen Schloss, einem Knusperhäuschen und einem Blockhaus, außerdem ein Puppentheater, eine Radiostation und Ausrüstung für alle möglichen Aktivitäten.

Unter den Blicken von Stalin und Lenin: Kinder in einem Pionierlager unweit von Moskau (Foto: Thomas Hammond)

Ein Märtyrer und ein Geschenk

Igor, ein sympathischer 15-jähriger Blondschopf und Vizepräsident des Lagers, zeigte mir die Bibliothek. An der Wand hatte die Fotografie eines kleinen Jungen einen Ehrenplatz. „Das ist Pawlik Morosow, der Held der sowjetischen Jugend“, sagte Igor. „1932, während der Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft, wollte sein Vater eine Gegenbewegung organisieren. Pawlik hat das den Behörden gemeldet. Sein Vater wurde festgenommen und erschossen. Pawliks Großvater hat ihn dafür ermordet. So wurde der Junge zu einem Märtyrer für die Sache des Kommunismus.“

Als ich durch das Lager streifte, folgte mir ein Junge von vielleicht sieben Jahren und lächelte vor sich hin. Sein Kopf war kahl geschoren. „Wo kommst du her?“, fragte er mich. – „Aus Amerika.“ – „Sag mal, gibt es in Amerika auch Kinder?“ – „Natürlich.“ – „Warte kurz, ich will etwas aus meinem Schrank holen.“

Im nächsten Moment kam er auch schon angerannt und drückte mir einen Spielzeughubschrauber in die Hand. „Schenk das einem amerikanischen Jungen“, sagte er, „zum Zeichen der Freundschaft zwischen sowjetischen und amerikanischen Kindern“.

Religionsbekämpfung in der Kirche

Bei einem Spaziergang durch Leningrad fand ich mich einmal vor einem imposanten Bau im klassizistischen Stil wieder. Er erinnerte ein wenig an den Petersdom in Rom, doch seine heutige Bestimmung war längst keine geistliche. An der Fassade konnte man die Worte „Museum für Religionsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion“ lesen. 

Meine Museumsführerin, eine groß gewachsene und unbescholten aussehende junge Frau von ungefähr 20 Jahren mit langen blonden Haaren, führte aus, dass der Bau bis 1929 als Kasaner Kathedrale bekannt war. „Nach der Revolution“, hob sie zu einer einstudierten Lektion an, „wurden die meisten Leute zu Atheisten, deshalb hat man die Kirche geschlossen“. 1932 sei dort „auf Bitten des Volkes“ ein antireligiöses Museum eingezogen. Statt der Ikonen und brennenden Kerzen ist die Kathedrale heute mit Exponaten gefüllt, die beweisen sollen, dass alle Religion in die Irre führt.

Trotz staatlichem Atheismus: Gläubige drängen sich vor dem Dreifaltigkeitskloster in Sergijew Possad. (Foto: Thomas Hammond)

Nicht alle Meister sind gleich anerkannt

Anderntags machte ich mich auf den Weg zur Eremitage, das großartigste Kunstmuseum von Russland und eines der bedeutendsten in der Welt. Die Eremitage ist Teil des Winterpalasts, von wo aus der letzte Romanow-Zar Nikolai II. einst die Heilige Rus regierte. Der herrschaftliche Palast, eine ruhige Komposition aus Hellgrüntönen und weißen Elementen, war ein zentraler Schauplatz der russischen Revolution. […]

Als ich die Eremitage betrat, geriet ich unter die Geister dessen, was möglich gewesen wäre. Ich verbrachte im Museum vier zauberhafte Stunden, doch hätte mir lieber eine Woche dafür Zeit nehmen sollen. In den Schaukästen glitzerte griechischer und skythischer Schmuck, während in den prächtigen Gemäldegalerien viele Bilder von da Vinci, Raffael, Rembrandt, Tizian, van Dyck und anderen Malern von Weltrang ausgestellt waren.

In einfachen Räumlichkeiten ohne jeden Schick hingen weiter oben die Werke neuer Meister, die vom sowjetischen Regime misstrauisch beäugt werden, darunter Dutzende Gemälde von Cézanne, Gauguin, van Gogh, Matisse und Picasso. Vor einem riesigen Matisse-Gemälde stand ein etwa 40-jähriger Mann mit wohlgeformtem Gesicht und dunkler Mähne. „Gefällt Ihnen dieses Bild?“, fragte ich ihn. „Sehr“, antwortete er. „Die meisten hier halten Matisse für ,entartet‘, aber mich fesseln seine Arbeiten. Wissen Sie, ich bin selbst Künstler, deshalb komme ich oft hierher.“

Zwischen Lenin und moderner Kunst

Ich erzählte ihm, dass ich gerade erst in Paris war und dort ein neues Buch mit Reproduktionen moderner Kunst erworben habe. „Würden Sie es mir verkaufen?“, fragte er begierig. „Oder kann ich es zumindest ansehen?“

Wir verabredeten uns für denselben Abend in einem kleinen Park unweit der Newa, damit ich ihm das Buch zeigen kann. Als wir dort ankamen, war es schon fast 22 Uhr und trotzdem taghell. In Leningrad, das weiter im Norden liegt als Juneau, die Hauptstadt von Alaska, wird es im Sommer auch nachts kaum dunkel. Mein neuer Freund, der Künstler, vertiefte sich in das Buch.

„Bei uns erscheinen nur wenige Bücher über moderne westliche Kunst“, meinte er mit Bitterkeit in der Stimme. „Ich würde gern in diesem Stil malen.“ Was für Bilder er denn male, wollte ich wissen. „Ich male Lenin-Porträts“, erklärte er mit gequältem Lächeln. „Wieder und wieder, Tag für Tag, Monat für Monat male ich Lenin.“ Aber warum tut er das? „Es wird gut bezahlt. Ich verdiene 6000 Rubel [600 Dollar] im Monat. Lenin-Porträts sind immer gefragt. In jedem Büro, Laden, Klassenzimmer und zu Hause muss so ein Porträt hängen. Vor einigen Jahren habe ich Stalin gemalt, aber der ist schon nicht mehr so gefragt.“

Könnte er nicht etwas anderes malen als kommunistische Politiker? „Manchmal male ich im modernen Stil, aber davon kann ich nicht leben. Die Museen kaufen solchen Bilder nicht und Privatleute haben weder Geld noch Geschmack. Das Einzige, was sich außer Porträts verkauft, ist propagandistische Kunst – lächelnde Mädchen am Steuer eines Traktors und dergleichen mehr.“

Das Lenin-Memorial in Uljanowsk, der Geburtsstadt von Lenin, wenige Jahre nach seiner Eröffnung 1970 (Foto: Thomas Hammond)

Ein wenig mehr Freiheit liegt in der Luft

Und doch habe sich die Lage ein wenig entspannt. „Stalin hatte einen schlechten Geschmack in allem, und der gesamten Nation musste gefallen, was er gut fand. Er hat uns isoliert und abgetrennt vom Mainstream der westlichen Kultur. Aber jetzt weht bei uns in gewisser Hinsicht ein frischer Wind. Nehmen Sie mich zum Beispiel. Vor einigen Jahren hätte ich es noch nicht gewagt, mich mit Ihnen zu treffen.“

Also war es für Sowjetbürger nicht mehr gefährlich, sich mit Ausländern zu unterhalten? Er zuckte mit den Schultern. „Das weiß man nie so genau. Die Geheimdienstler sind überall. Wahrscheinlich haben sie gesehen, dass ich mit Ihnen rede. Aber so lange keiner erfährt, was dabei gesagt wurde, habe ich wohl nichts zu befürchten. Wir entwickeln einen sechsten Sinn für solche Dinge.“

Es vergingen nur wenige Minuten und ein Milizionär näherte sich uns. Mir fuhr der Schreck in die Glieder. Sollte uns tatsächlich jemand belauscht haben? Konnte mein Freund festgenommen werden? „Der Park schließt um Mitternacht“, sagte der Uniformierte, „begeben Sie sich zum Ausgang“.

Übersetzung aus dem Russischen: Tino Künzel

Quellenhinweis für die Fotos: University of Virginia Center for Russian, East European, and Eurasian Studies

Запись Der Blick hinter die Fassade: Erlebnisse in der Sowjetunion, Teil zwei впервые появилась Moskauer Deutsche Zeitung.

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