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Warum "unsere Demokratie" nicht sehr demokratisch ist ‒ Teil 1

Von Dagmar Henn

Derzeit ist wieder einmal ständig die Rede davon, "unsere Demokratie" sei bedroht. Weshalb es ganz dringend erforderlich sei, den Daumen auf alle gefährlichen Äußerungen zu halten und in jeder nur denkbaren Hinsicht gegen unpassende politische Bestrebungen einzugreifen. Was aber nicht mitgeliefert wird bei den Reden, ist eine genaue Erläuterung, was mit "unserer Demokratie" eigentlich gemeint ist.

Und alle konnten das Theater beobachten, das die Demokraten in den USA gerade aufgeführt haben – die Ernennung einer Kandidatin für die Präsidentschaft der so vorbildhaft demokratischen Vereinigten Staaten von Amerika per, nun ja, Parteiintrige, unter Umgehung sämtlicher in der Verfassung vorgesehener Schritte und Abstimmungen.

Das war ein Musterbeispiel dafür, wie sehr inzwischen schon die formellen Anforderungen an eine Demokratie ad absurdum geführt werden. Die einzigen Personen, die für Kamala Harris gestimmt haben, waren Strippenzieher hinter den Kulissen, und was antritt, ist eine Kandidatin ohne wirkliches politisches Programm, eine reine Galionsfigur.

Das ist jedoch keine Ausnahme. Personen, die selbst entweder eigentlich für nichts stehen oder nur Werbefiguren für unverstandene Projekte sind, gibt es derzeit auch in Deutschland im Dutzend billiger. Wenige davon könnten in einer wirklichen Diskussion bestehen, weswegen die Diskussionssimulationen, Talkshows genannt, die die Fernsehprogramme füllen, auch immer sorgfältig so orchestriert sind, dass sich die "richtige" Meinung schon durchsetzt. Eine Eigenschaft, die sie übrigens mit vielen Parteitagen teilen.

Woran dieser pathetische Verweis auf "unsere Demokratie" appelliert, ist eher die – nicht sehr reale – Vorstellung von der "Herrschaft des Volkes", und weniger eine Erinnerung an das demokratische Verfahren im Sinne einer Entscheidung der Mehrheit. Aber wenn man überprüfen will, ob und inwieweit diese Demokratie funktioniert, und ob und inwieweit sich dadurch die Interessen der Mehrheit abbilden, muss man ins Detail gehen. Das bedeutet auch, wahrzunehmen, auf welche Weise ein theoretisch mögliches Ergebnis praktisch unmöglich wird.

Ein paar Punkte sind noch den meisten bewusst. Dass die Konzernmedien vor allem für die Interessen ihrer Eigentümer arbeiten und nicht die ihrer Leser, beispielsweise. Oder dass das Leben eines Bundestagsabgeordneten, mit einem weit überdurchschnittlichen Einkommen, die Wahrnehmung verändert. Aber es gibt noch viele weitere und unauffälligere Mechanismen, die sich unglücklicherweise gegenseitig verstärken.

Eigentlich gab es in Deutschland recht viele Strukturen, in denen man erfahren konnte, wie Demokratie funktioniert. Es gibt mehr als 650.000 eingetragene Vereine, und das Vereinsrecht schreibt eine demokratische Struktur vor. Sprich, die Satzungen müssen die Rechte der Vorstände aus den Beschlüssen der Mitgliedschaft ableiten. Der Vorstand ist, so sieht es das Konzept eigentlich vor, im Auftrag tätig und muss deshalb auch jährlich Rechenschaft über diese Tätigkeit ablegen.

Rechenschaft ist ein Begriff, den man sich schon einmal für später merken sollte. Ja, tatsächlich, an sich ist ein Verein die ideale Umgebung, um Demokratie zu lernen, eingeschlossen einige der Probleme, die mehr oder weniger unvermeidbar sind. Wie beispielsweise ungleich verteiltes Wissen. Selbst in einem, sagen wir einmal, Dorffußballverein hat bei den Vorstandswahlen derjenige einen Vorteil, der nachweislich die gesamte Bürokratie beherrscht oder der gut darin ist, Spenden aufzutreiben. Die rechtlich vorgesehene Gleichheit der Vereinsmitglieder ist in der Praxis also nur eingeschränkt vorhanden.

Und natürlich, sobald Dinge wie Status hinzukommen, gibt es auch Machtkämpfe und Intrigen. Was in unserem gedachten kleinen Verein allerdings an natürliche Grenzen stößt, weil man zwar ein wenig andere ausmanövrieren kann, aber wenn man mit ihnen tagtäglich umgehen muss, ist es ausgesprochen dumm, die eigenen Absichten auf der Grundlage knapper Mehrheiten durchzusetzen. Es gibt also ein Gegengewicht zur unvermeidlichen Intrige, eine Notwendigkeit des Ausgleichs. Der Vorsitzende einer freiwilligen Feuerwehr kann es sich nicht erlauben, alle, die er nicht innig liebt, aus dem Verein zu drängen, weil sehr schnell die eigentliche, wichtige Funktion nicht mehr erfüllt werden könnte.

Vereine lehren in dieser Hinsicht übrigens weit mehr als die Demokratiesimulationen der Sorte Schülervertretung, die in ihrem ganzen Handeln der Schulhierarchie untergeordnet ist. Und ja, solche Erfahrungen sind wichtig, um dann später eventuell verstehen zu können, was in Parteien passiert.

Juristisch sind die deutschen Parteien nicht eingetragene Vereine (ein paar sind sogar eingetragene), was heißt, eigentlich gelten die Vorgaben des Vereinsrechts auch hier. Aber spätestens, wenn sie in Parlamenten vertreten sind, sind sie nur noch mit großen und ausgiebig kommerziell tätigen Vereinen zu vergleichen. Denn die Frage von Status und Positionen wird sehr schnell wichtiger als das eigentliche politische Anliegen, das eine Partei einmal entstehen ließ.

Zum Teil sind das sehr einfache menschliche Bedürfnisse, die das fördern. Mit Situationen, in denen der eigene Status unsicher oder jederzeit von einer Veränderung bedroht ist, können Menschen nicht gut umgehen. Im Gegensatz zu Betrieben oder Verwaltungen, die völlig undemokratische Kommandostrukturen sind, und auch deutlich stärker als Vereine sind Parteien an sich extrem flüssige soziale Strukturen. Sprich, der eigene Status wie der der eigenen Umgebung kann sich jederzeit ändern. Die natürliche Reaktion darauf ist, sich jenseits des demokratischen Verfahrens Stabilität zu verschaffen, durch Netzwerke beispielsweise.

Dann gibt es aber noch etwas, das stark hineinwirkt. Wie sehr sich dieser Faktor und alle weiteren, die der Demokratie in Parteien entgegenstehen, auswirken, hängt völlig davon ab, wie stark das politische Interesse in der Bevölkerung allgemein ist. Ist es hoch, gehen Menschen in Parteien mit dem Willen, selbst inhaltlich etwas zu erreichen und zu verändern. Ist es niedrig, werden viele nur deshalb Mitglieder, weil sie damit eine irgendwie noch empfundene Verantwortung für die Allgemeinheit abhaken wollen. Man kann beide Typen leicht voneinander unterscheiden – der erste ist neugierig und will lernen, wie alles funktioniert; der zweite ist zufrieden, gelegentlich Hand oder Kärtchen für irgendwelche Kandidaten zu heben. Übrigens, die Gesamtzahl der Mitglieder aller Parteien lag in der Bundesrepublik um 1972 am höchsten, hat sich aber allein von 1990 (2,4 Millionen) auf 2023 (1,1 Millionen) mehr als halbiert.

Nun ist zwar bei jedem Verein vorgesehen, dass der Vorstand demokratisch gewählt wird, aber bei sehr vielen Vereinen halten sich die Folgen für die Gesellschaft, wenn dem nicht so ist, in sehr engen Grenzen. Das ist bei Parteien völlig anders.

Die Idealvorstellung einer repräsentativen Demokratie geht davon aus, dass der Gewählte die Interessen seiner Wähler vertritt ‒ traditionell tatsächlich seines Wahlkreises. Eigentlich gehört auch die Rechenschaftslegung in dieses Modell. Eine Parteiendemokratie wie in Deutschland schaltet ein weiteres Element zwischen die Wähler und ihre Vertretung, denn welche Kandidaten zur Auswahl stehen und welchen Programmen sie folgen, wird in den Parteien entschieden. Parteien sind, auch das muss man einmal in Erinnerung rufen, keine notwendige Voraussetzung für eine repräsentative Demokratie ‒ eine Bürgerversammlung, in der offen über die gewünschte Vertretung abgestimmt wird, wäre mindestens ebenso legitim.

Idealerweise müssten sich die Interessen einer faktischen Mehrheit selbst bei einer repräsentativen Variante abbilden. Man kann an einfachen Beispielen erkennen, dass das in der Wirklichkeit nicht so ist: Die Mehrheit der Deutschen wohnt zur Miete. Ob man eine Wohnung findet, sie bezahlen kann, und in welchem Zustand sie ist, hat direkte Folgen für die eigene Lebensqualität. Tatsächlich aber gibt es seit vielen Jahren eine zunehmende Wohnungsnot und sogar Wohnungslosigkeit, ohne dass dieses Thema oben auf der politischen Agenda landet. Die reale, statistisch belegte Mehrheit bildet sich im politischen Handeln nicht ab.

Der Umweg über die Parteien schafft bereits eine Möglichkeit, wie sich Partikularinteressen auch gegen die der Mehrheit durchsetzen können. Die Bildung von Koalitionen gibt den kleinen Partnern immer relativ mehr Durchsetzungsmöglichkeit als den großen, was, sobald sich die soziale Zusammensetzung der Parteien selbst unterscheidet, zwangsläufig das Ergebnis verzerrt. Die Rolle der FDP in der bundesdeutschen Geschichte zeigt das mehr als deutlich (wobei natürlich immer noch die Frage bleibt, ob sie nicht schlicht ihren Partnern die passende Entschuldigung liefert, leider das, was im Interesse der breiten Mehrheit läge, nicht durchsetzen zu können).

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