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Georgien im Ausnahmezustand: Massenproteste gegen prorussische Regierung

Seit Wochen herrscht in Georgien der Ausnahmezustand: In wenigen Tagen wird ein pro-russischer Präsident an die Macht kommen. Der Kampf um die europäische Zukunft des Landes spitzt sich zu, schreibt Stephan Malerius von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tiflis. Den zentralen Weihnachtsmarkt in der georgischen Hauptstadt Tiflis schmückt in diesem Jahr ein festlich beleuchteter Zug mit vier Waggons. Er soll von der Regierung des Georgischen Traumes bestellt worden sein. Der Weihnachtsmarkt befindet sich traditionell vor dem Orbeliani Palast, dem Amtssitz der georgischen Präsidentin Salome Surabischwili. Der Zug ist ein Fingerzeig, dass ihre Amtszeit in wenigen Tagen abläuft und sie den Präsidentenpalast zu räumen hat. Surabischwili kommentierte die kleinliche Geste mit den Worten: "Na, lasst uns mal schauen, wer in den Zug steigen wird…" Die erneute Eskalation zwischen Regierung und Präsidentin beschließt ein zutiefst konfrontatives Jahr für Georgien. Erst peitschte der Georgische Traum im Frühsommer trotz wochenlanger Proteste ein von Russland inspiriertes Agentengesetz durch das Parlament. Dann wurden die Parlamentswahlen im Oktober derart dreist gefälscht, dass das Land für Wochen in kollektive Apathie verfiel. Als Ministerpräsident Irakli Kobachidse Ende November jedoch ankündigte, die Annäherung an die EU bis 2028 auszusetzen, ging ein Ruck durch Georgien. Seitdem protestieren Abend für Abend Zehntausende Menschen gegen die Regierung, und zwar landesweit, selbst in kleineren Provinzstädten. Das Epizentrum der Proteste befindet sich in der Hauptstadt Tiflis. "Dein Imperium endet hier" Täglich finden hier Protestmärsche statt, von Anwälten und Lehrern, Eltern und Studierenden, von Basketballfans und Basketballspielern, Mitarbeiterinnen von Banken und Energieunternehmen, von Krebspatienten und Tänzern der Philharmonie. Die Proteste sind horizontal organisiert, sie sind fröhlich und wütend zugleich. Triebfedern sind Europa sowie die Ablehnung Russlands. "Dein Imperium endet hier" oder "Burn Russia to the ground", besagen zwei von unzähligen Graffitis im Zentrum der Hauptstadt, die die Proteste illustrieren. Tobte die Auseinandersetzung um die Ausrichtung Georgiens nach Europa oder nach Russland anfangs noch vor dem georgischen Parlament und war von Feuerwerkskörpern, Wasserwerfern und Tränengas geprägt, hat sich die Dynamik der Proteste verändert. Nach Tagen brutalen Vorgehens von Sicherheitskräften und inzwischen über 300 Inhaftierten versammeln sich die Menschen nun jeden Abend auf der ganzen Länge der zentralen Rustaweli-Straße, um Bekannte zu treffen und nebenbei gegen die Regierung zu protestieren. "Nach Feierabend fahre ich nach Hause, mache schnell Abendbrot für die Kinder, dann gehe ich demonstrieren", beschreibt eine Bekannte ihren neuen Alltag. Zwei Forderungen haben sich mittlerweile herauskristallisiert: Freilassung der Inhaftierten und eine Wiederholung der Wahlen. Das soll helfen, Georgien neu zu sortieren. Sie ist das Gesicht der Proteste Das Gesicht der Proteste ist Präsidentin Surabischwili. Ob Mitte Dezember im Europäischen Parlament oder unter den Protestierenden auf dem Rustaweli – sie bietet der Regierung unverdrossen die Stirn. Diese kann es nicht abwarten, sich ihrer zu entledigen. Mitte Dezember war von einem Wahlkollegium ein Nachfolger von Surabischwili gewählt worden: Micheil Kawelaschwili, ein ehemaliger Fußballspieler, der vor zwei Jahren die rechtspopulistische Partei "Kraft der Menschen" mitbegründet hatte, ein pro-russisches, fremdenfeindliches und europaskeptisches politisches Projekt, das in der georgischen Gesellschaft nicht verfing. Die beiden ersten Gratulanten nach seiner Wahl waren der aserbaidschanische Präsident Alijew und der belarussische Präsident Lukaschenko, beides repressive Autokraten und notorische Wahlfälscher. Surabischwili argumentiert, die Wahl Kawelaschwilis sei nicht legitim. Der Grund: Das Wahlkollegium bestand vor allem aus dem Parlament, welches aus den gefälschten Parlamentswahlen im Oktober hervorgegangen war. Das Parlament wird von der Opposition boykottiert und kann sich nicht auf eine breite internationale Anerkennung stützen. Alle wesentlichen Entscheidungen gehen über seinen Tisch Der Autor des Dramas, das die georgische Gesellschaft seit Monaten in Atem hält, ist der Oligarch Bidsina Iwanischwili, Gründer des Georgischen Traumes und informeller Machthaber im Land. Zweimal war er für kurze Zeit Ministerpräsident, zieht aber lieber als Privatperson die Strippen. Alle wesentlichen politischen Entscheidungen gehen über seinen Tisch, die handelnden Akteure sind von ihm eingesetzt. Deshalb rief der französische Präsident Emmanuel Macron im Dezember auch ihn an und nicht die Regierung, um ein Ende der Gewalt gegen die Demonstrierenden anzumahnen. Transparenz und Rechenschaftspflicht sind Iwanischwili suspekt, deshalb hat er auch kein Interesse an einer fortgesetzten Annäherung Georgiens an die Europäische Union, die genau das von ihm verlangen würde. Zwar versprach Iwanischwili, der sein Geld in Russland gemacht hat, Georgien werde "mit Würde nach Europa" geführt. Dass es ihm wirklich um Europa geht, glaubt im Land jedoch kaum noch jemand. Und auch das Versprechen der Würde erscheint leer: Kawelaschwili, der einst für unfähig befunden wurde, den georgischen Fußballverband zu führen, ist als Präsident eine Zumutung für Georgien. Der nächste Akt des Dramas beginnt bald Für viele Georgierinnen und Georgier ist es Präsidentin Surabischwili, die die Würde Georgiens verkörpert, auch weil für sie die europäische Zukunft des Landes eine conditio sine qua non – eine notwendige Bedingung – ist. Ministerpräsident Kobachidse droht jetzt indirekt, sie festnehmen zu lassen, wenn am 29. Dezember der neue Präsident ins Amt eingeführt wird. Damit beginnt dann voraussichtlich der nächste Akt des georgischen Dramas. Denn Surabischwili hat angekündigt, nicht in den Weihnachtszug einsteigen und aus dem Orbeliani-Palast ausziehen zu wollen. Viele Georgier und Georgierinnen sind entschlossen, die letzte unabhängige staatliche Institution und die Würde ihres Landes zu verteidigen. Den Protestierenden schrieb die Präsidentin kurz vor Weihnachten : "Ich bin, wo immer ihr seid. Tiflis wird die Stadt des Sieges sein, und gewinnen wird Georgien." Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinungen der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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