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AfD im Höhenflug: Das steckt hinter dem Aufstieg der Partei

Es gab eine Zeit, da konnten die übrigen Parteien dem Erstarken der Grünen nur ohnmächtig zusehen. So geht es ihnen, inklusive der Grünen, jetzt mit der AfD. Was ist da passiert? Vor ein paar Tagen, als sich die halbe Welt über einen schütteren Text von Elon Musk in der "Welt am Sonntag" aufregte und die andere Hälfte über die Aufregung darüber, da stand ein paar Seiten zuvor in derselben Ausgabe ein Essay des amerikanischen Historikers Niall Ferguson . Dort fand sich im Unterschied zu Musks dürren Zeilen eine Fülle von Gedanken, über die es sich immer noch nachzudenken und zu streiten lohnt – jetzt, wo das Gesaus und Gebraus um die Wahlempfehlung des amerikanischen Tech-Milliardärs vorläufig etwas abgeebbt ist. Wie es seine Art ist, versuchte sich Ferguson an einem ganz großen Gedankengebäude, das sich global vom Nahen Osten bis in den Westen wölbte. Man kann über manches streiten und anderer Meinung sein, was immer erlaubt und gut ist, es kann auch sein, dass er sich bei diesem Versuch überhoben hat (im Unterschied zu Musk, der sich dieser Gefahr in seinen Plattitüden und Ahnungslosigkeiten gar nicht erst ausgesetzt hat). Aber Ferguson bot einen überlegenswerten Gedanken an, weshalb gar kein Elon Musk des Weges kommen muss, um die AfD in höchste Höhen der Meinungsumfragen zu heben. Verantwortlich dafür macht Ferguson einen "Vibe Shift", einen grundsätzlichen Gezeitenwechsel in den westlichen Gesellschaften. Dieser "Vibe Shift" gehe weg von der lange dominanten Woke-Kultur, sei bestimmt von einer Rückkehr zur Realität und von einer Abkehr des Schuldgetriebenen, einer Abwendung vom Akademisch-Verschwurbelten und Verdrehten hin zu einer Renaissance des gesunden Menschenverstandes. Und zum Aussprechen von Wahrheiten, die offen auf der Straße liegen. Milei, Trump und auch die AfD gehören in Fergusons Augen zu diesem global-westlichen Phänomen. Das sich nach seiner Wahrnehmung sogar den Spaß erlaubte, diese Disruption, den Widerstand gegen die bisherige Hegemonie des Linksliberalen, zum exakt gleichen Zeitpunkt zu vollziehen: "In Berlin stürzte in derselben Woche, in der Trump gewählt wurde, Olaf Scholz' Ampelkoalition (…). Friedrich Merz , der jahrelang die wahrhaft konservative Alternative der Christdemokraten zur zentristischen Angela Merkel war, wird nun wahrscheinlich Bundeskanzler werden (tatsächlich hat der Stimmungswandel Merkel abrupt von einer Heldin zu einer Null gemacht)." Man kann Fergusons Befund von einem Gezeitenwechsel, der mit einem politischen Wachwechsel einhergeht, bedauern. Ernsthaft bestreiten kann man ihn nicht. Viel zu lange sind diejenigen, die den Prioritäten der bisherigen Vorherrschaft im Denken und Meinen nicht folgen wollten, in die Ecke gestellt worden. Ihre Einwände verhallten auch dann ungehört, wenn sie einen guten Grund hatten. Bestenfalls wurden sie milde von oben herab behandelt als diejenigen, die es eben noch nicht begriffen haben und (das war oft der Subtext) auch intellektuell gar nicht imstande sind, es zu je begreifen. Nun passiert das Gleiche auf der anderen Seite Dabei sind die, die sich auf der guten und richtigen Seite wussten, oft über jedes Maß und Ziel hinausgeschossen. Nun passiert das Gleiche auf der anderen Seite. Nicht allein die "wahrhaft konservative Alternative", wie Ferguson schreibt, wird nun Nutznießer des Gegenausschlags über jede vernünftige Mitte hinaus, sondern die extreme AfD oder artverwandte Parteien und Gruppierungen in anderen Ländern. In seinem Aufsatz zum politischen Moralismus hat der brillante Philosoph Hermann Lübbe schon 1985 beinahe prophetisch vorhergesehen, wohin der "Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft" (so der Untertitel des Vortrages) führen kann. Ins Totalitäre nämlich. Politischer Moralismus, das sei eine "Selbstermächtigung" unter Berufung "auf das höhere Recht der eigenen, nach ideologischen Maßstäben moralisch besseren Sache." Politischer Moralismus, das sei in der Folge das Umschalten vom Argument auf die Integrität des Gegners: "Statt der Meinung des Gegners zu widersprechen, drückt man Empörung darüber aus, daß er es sich gestattet, eine solche Meinung zu haben und zu äußern." How dare you?! Als habe Lübbe Greta Thunberg schon Mitte der Achtziger im Ohr gehabt. So war es auch beim emotional zentralsten Thema der vergangenen 10 bis 15 Jahre: der Migration. Wer sich nicht der Meinung anschloss, dass das alles nur gut und richtig sein kann, was da passiert und wie da gehandelt wird, stand schnell außerhalb eines Bogens der Toleranz. Dann sei das nicht ihr Land, sagte damals Bundeskanzlerin Angela Merkel. "How dare you?!" in anderen Worten. Und genau deshalb tut sich Friedrich Merz so schwer, die Union wieder in echte Höhen jenseits der 30 Prozent zu hieven. Weil zu viele das noch in den Knochen haben und die Union als ihre traditionelle Interessenvertretung ausfallen sahen, tendieren sie weiterhin zur AfD. Zulauf im Schlaf So, wie die Grünen seinerzeit auch dann noch jahrelang im Schlaf Zulauf hatten, als SPD und Union den Schuss in Sachen Ökologie endlich gehört hatten. Am Ende ist eine Partei nichts anderes als eine Marke, ein Markenversprechen. Der Aufbau einer Marke dauert lange, das Vertrauen in eine Marke ist schnell verspielt und nur sehr mühsam wieder aufgebaut. Die Marke AfD steht da jetzt jahrelang für eine Politik, die die CDU (in vernünftig-maßvoller Weise) erst unter Merz wieder zu besetzen begann. Mit der Lübbeschen "Selbstermächtigung der moralisch besseren Sache" geht das Maßlose einher. Und verloren geht gleichzeitig das, was der Renaissance-Philosoph Michel de Montaigne in seinen Essays an vielen Stellen einfordert: Maß und Mitte. "Ich liebe die ausgeglichenen, mittleren Naturen", so die Lieblingsstelle von Heinrich Mann, "Maßlosigkeit selbst im Guten wäre mir fast zuwider, jedenfalls aber verschlägt sie mir die Sprache." Des Guten zu viel Dieser Widerwille gegen die Maßlosigkeit des Guten hat breite Wählerschichten ergriffen. Und solange sich die Ausgeglichenheit der mittleren Naturen nicht wieder einstellt, das Pendel gewissermaßen wieder um die Mitte schwingt, so lange braucht Alice Weidel gar nicht zu einem X-Talk mit Elon Musk anzutreten. Sie könnte einfach in Zürich bleiben und versonnen mit ihrer Perlenkette spielen wie mit einem Rosenkranz. Der "Vibe Shift" treibt ihr vorläufig Wählerinnen und Wähler beinahe im Schlaf zu. Ob mit oder ohne Musk.

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