Der Gast in der Wortspielhölle

Na, das ist mal ein Duell, da schlägt das Borussenherz höher. Denn wer hat zuletzt gegen den Gegner vom Samstag geknippst? Richtig, der Netzer selbstpersönlich. In der Aufstiegsrunde der Regionalliga war das, am 19.6.1965. Das Spiel ging aber trotz dieses Tores und eines ganz frühen von Heynckes am Ende 4:2 verloren, aber das war zu verschmerzen, da am Ende der Aufstieg in die Bundesliga stand. 21,728 Tage später (ich habe das gerade mit Excel extra für Euch ausgerechnet) steht also nun eine Revanche an. In der Bundesliga, in die es die Kieler mit etwas Verspätung also doch noch geschafft haben. Kiel, der erste Club aus Schleswig-Holstein in der Bundesliga... und die Wortspiele, die man da reißen kann. Die riechen noch ganz neu, sind noch nie gemacht worden. Fünf Stück baue ich ein, mindestens.  

Aber, bevor wir uns begeistert und voller Vorfreude dem Gegner widmen, und das ist gewiss nicht despektierlich gemeint, also so, als wäre das gar nicht so wichtig oder man nähme den Gegner nicht ernst, also der Eindruck soll keineswegs entstehen, aber vorher, da müssen wir unbedingt noch ein paar Worte zum vergangenen Wochenende verlieren. Da ist nämlich wahnsinnig viel geschrieben und noch viel mehr geredet worden. Und da war wahnsinnig viel Unsinn dabei. Und da wir noch keinen absondern konnten, müssen wir da noch einmal drauf zurückkommen, weil so ein paar Dinge noch nicht gesagt wurden, dafür ganz andere Dinge sehr wohl gesagt wurden.  

Erstes Thema: Das vermeintliche Foul von Bensebaini. Wie in allen Fällen gab es im Nachgang das ganze Spektrum an Meinungen zu hören und zu lesen. Wirklich alles, von “klarster Elfmeter aller Zeiten”, “dumm aber nun mal Regel”, bis “will man nicht”, “kann keiner sein, der Ball ist ja auf dem Weg ins Aus”, und so weiter. Christoph Kramer sagte in einem Podcast sogar, mit ihm auf den Platz wäre der gepfiffen worden, weil er vorher keine Ruhe gegeben hätte. Nun, bei solchen Szenen, da fallen einem ja immer andere Szenen ein. 4.11.2023, 17:21 Uhr, Freiburg. Weißhaupt von SC Freiburg tritt einen Ball ins Toraus. Als der Ball die Torauslinie gerade überschreitet - Weißhaupt hat keine Chance auf den Ball - wird er von Chiarodia am Fuß touchiert. Letzterer wollte nämlich auch zum Ball, war aber zu spät dran. Weißhaupt krümmte sich erwartungsgemäß Sekunden später scheinbar vor Schmerzen hyperventilierend am Boden. Dabei war die Berührung ja doch ein Unfall, der Ball war auf dem Weg aus dem Spiel und für den Spieler nicht mehr zu erreichen. Das war selbstverständlich ein völlig unstrittiger Strafstoß; dass der Ball in der Situation nicht mehr gespielt werden konnte, hat niemanden interessiert. Es war nicht mal ein richtiges Foul, weil Weißhaupt natürlich nicht fallen musste, sondern nur simulierte. Am Samstag: Ein eindeutiges Foul, dafür aber kein Kampf um den Ball. Argumentiert wird aber plötzlich damit, dass der Ball aus dem Spiel war. Warum das aber nur jetzt ein Argument ist, sonst aber nicht, erschließt sich nicht. Wer erinnert sich nicht mit Wärme im Herzen, wie Jermaine Jones Reus auf den verletzten Fuß trat? Das war also auch kein Foul, denn der Ball war nicht im Spiel. Das Spiel lief nicht einmal. Dann hätten wir das ja auch geklärt.  

Also abschließend zu der Szene: Selbstverständlich will man nicht unbedingt, dass sowas als Elfmeter gewertet wird, und diesen Elfmeter möchte niemand gegen sich haben, aber vielleicht sollte man dann mal eine entsprechende Regel parat haben, und nicht einfach eine erfinden.  

Während man hier noch streiten kann, sieht das beim Handspiel von Guirassy und dem ausbleibenden Elfmeterpfiff schon anders aus. Da können wir uns festlegen. Warum? Weil das von höchster Stelle anlässlich der Cucurella-Geschichte geklärt wurde. Zitieren wir aus der Anweisung: “Following the latest UEFA guidelines, a handball contact that stops a shot on goal should be penalized more strictly, and in most cases a penalty kick should be awarded, unless the defender's arm is very close to the body or on the body. In this (also Cucurellas, Anm d. Red) case, the defender stops the shot on goal with his arm, which is not very close to the body, making it bigger, so a penalty kick should have been awarded." Stieler argumentierte, das Schuss sei aus viel geringere Entfernung abgegeben worden und der Arm habe keine Spannung gehabt, deshalb wäre das trotz identischer Armhaltung ein ganz anderer Fall. Wenn man die Begründung aber liest, dann steht da nichts von der Nähe des Schützen oder der Wucht des Schusses oder der Spannung im Arm. Da steht nur, dass der Schuss aufs Tor ging und der Arm zu weit draußen war, und dass es deshalb hätte Elfmeter geben müssen. Und der Arm war bei Guirassy nicht näher am Körper als bei Cucurella. Dafür war Guirassy viel näher am eigenen Tor als Cucurella und der Ball ging noch viel klarer aufs Tor. Was man zusätzlich auch einmal anmerken könnte: Wenn der Arm doch halbtot an Guirassy herumschlackerte und der Schuß mit 120 km/h auf ihn zugedonnert kam, warum änderte der Ball dann seine Richtung um 90 Grad und war plötzlich nur noch mit 20 km/h unterwegs? Denn er trudelte ja nun einfach in Zeitlupe am Tor vorbei. "Die unerwartete Trägheit in Guirassys Arm" ist ein schöner Titel für einen philosophischen Essay über kontemplative Momente im Profifußball. 

Jetzt wurde nun einmal so entschieden, und es ist ja irgendwann auch mal gut. Nicht die erste Fehlentscheidung trotz VAR und es wird nicht die letzte sein. Warum also jetzt noch einmal davon anfangen? Kritische Stimmen waren hauptsächlich aus dem Lager des BVB zu hören, und zwar mit der etwas überraschenden Frage, wie man überhaupt in irgendeiner Szene einen Elfmeter gegen die Schwarzgelben habe in Erwägung ziehen können. Das sei eine völlige Unverschämtheit und habe Dortmund um drei verdiente Punkte betrogen. “Come on, fuck off!” zitieren wir da gerne den Dortmunder Übungsleiter. Da ist schon ein gewisses Ausmaß an Realitätsverlust vorhanden, aber er steht damit nicht allein. Denn am Sonntag schließlich, in der Sendung, in der immer unfassbar viel Meinung mit beeindruckend wenig Ahnung schmust, stellte sich der Hauptverantwortliche der Borussia vor der Kamera und lobte sämtliche Entscheidungen gegen den eigenen Verein. Das sei im Sinne des Fußballs gewesen. Das kann man durchaus anders sehen, und man muss sich schon wundern, warum das jetzt eine gute Taktik sein soll, sich gegenüber den Ligaverantwortlichen in Kraulstellung auf den Rücken zu schmeißen.  

Genau das tat man, also er, aber auch in der interessanten Frage, ob Bundesligavereinen, deretwegen ein Großteil der Gelder aus Fernsehrechten erzielt werden, auch mehr Gelder aus diesen Fernsehrechten zustehen, oder ob das Geld nicht besser den Vereinen zufließen sollte, die ohnehin und ohne sportliche Gegenleistung schon mehr Geld als andere und deswegen mehr sportlichen Erfolg haben. Roland Virkus befindet, dass die Leistung des vom nach Leipzig gepfropften Konstrukt mehr Geld verdient als die von Borussia Mönchengladbach und sagt das laut und offen. Er nennt es Leistungsprinzip, dabei ist es exakt das Gegenteil davon. Denn Leipzig bekommt seine Millionen nicht durch Leistung. Es ist ein Verein, der unabhängig vom Erfolg üppig alimentiert wird. Da muss man nicht speichelleckend danebenstehen und “der tollen Arbeit” applaudieren.  

Einen ganz neuen Drive bekam die finanzielle Lage der Borussia in diesem Gespräch, denn offensichtlich hatte man am Ende der Transferperiode ernstlich überlegt, noch einen Ersatz für Koné zu verpflichten, so zumindest Virkus in der gleichen Sendung. Dabei hatte er doch unlängst noch erklärt, dass man für die Abwehr in Folge mangelnder Geldmittel niemanden habe verpflichten können und da auch im Winter kein Spielraum bestehe.  

Aber im Verein findet man diese Performance so gut, dass man sich schon zu einem Gespräch “commited” hat, und weil “gute Vibes” herrschen, wird man für derlei Leistung mit einem neuen Vertrag belohnt werden. Nicht, dass Ihr denkt, nur der hippe Dortmunder Trainer spräche Englisch, das kann auch der Gladbacher Sportdirektor.   

Oh well, blicken wir aber nun endlich auf das nächste Spiel gegen die “Störche”, um gleich mal mit einem hippen Synonym um sich zu schmeißen. Im ersten Spiel nach Jahrzehnten gegeneinander steht der Favorit scheinbar fest, denn Kiel hat bisher einen einzigen Sieg erringen können (ein 1:0 zuhause gegen Heidenheim), und darüber hinaus aber nur zwei in der Fremde erzielten Unentschieden einfahren können. Dagegen Gladbach zuletzt mit starken Leistungen zuhause, das schmälert auch das letzte Unentschieden nur wenig.  Allerdings sollte die Borussia trotzdem gewarnt sein. Erst am Wochenende zeigte Heidenheim, dass man nicht gewillt ist, kampflos den Weg allen Greuther Fürths zu gehen. Es brauchte schon einen hanebüchenen Elfmeter nach einer mit plump nur unzureichend beschriebenen Schwalbe vom Leipziger Openda sowie einen zu Unrecht verweigerten Elfmeter für sich, um den tapfer agierenden Kielern den Stecker zu ziehen. Die klar bessere Mannschaft ging ohne Punkte vom Platz.

Damit das am Samstag nicht passiert, könnte Coach Marcel Rapp wieder auf Berhardsson bauen, der gegen Leipzig bereits wieder eingewechselt wurde. Wie auch Steven Skrzybski, der sich ebenfalls Hoffnung auf einen Startelfeinsatz machen darf, war er doch, so gesund, zuletzt immer gesetzt, wie Rapp in der Pressekonferenz betonte. Dort wurde er auch gefragt, ob eine Verpflichtung von Ex-Borusse Christoph Kramer ein Thema im Winter sein könnte, schließlich habe sich der Verein im Sommer ja mit der Personalie beschäftigt. Aber Rapp ließ sich auf das Spielchen nicht ein und wird ohne Kramersche Schiedsrichtereinflüsterungen versuchen, Punkte aus dem Borussia Park mitzunehmen.  

Ziemlich sicher treffen wird er dabei auf einen Ex-Spieler in Person von Philipp Sander, auf den er immer noch große Stücke hält, wie er betonte. Dass dieser in der Startelf stehen wird, ist allerdings der Gelbsperre von Julian Weigl geschuldet, womit wir schon beim Personal der Borussia wären. 

Direkter Netzer-Nachfolger wird in diesem Spiel auch nicht Thomas Čvančara  nach seiner rasant dämlichen Ampelkarte am vergangenen Samstag, aber in der Startelf hätte man ihn ohnehin nicht erwartet. Es wird weiterhin Tim Kleindiensts Hauptaufgabe sein, für Torgefahr zu sorgen. Aber ein Kaderplatz für Talent Swider könnte dafür drin sein, zumal auch Florian Neuhaus weiterhin ausfällt.  

Einigermaßen überraschend hatte es vor Wochenfrist Kevin Stöger wieder auf den Platz gespült, es ist sicherlich vorstellbar, dass Seoane wiederum Hack auf der Bank belässt und es mit Stöger und Plea gemeinsam auf dem Platz versucht, ergänzt um Honorat und das Mittelfeldduo Sander und Reitz. 

Gefühlt ist man sich außerdem schon ziemlich sicher, dass Elvedi seinen gerade zurückerlangten Startelfplatz nicht wieder an Friedrich zurückgeben wird müssen, was bedeuten würde, dass im Vergleich zur Vorwoche die identische Elf wieder beginnt. Dass der wiedergenesene Luca Netz seinen Fast-Namensvetter Lukas Ullrich jetzt schon wieder auf die Bank verdrängen könnte, ist jedenfalls höchst unwahrscheinlich. Doch auch, wenn das Personal gleichbleibt: Die Art des Spiels wieder sicherlich ganz anders sein, auch wenn Kiel im Spiel gegen Leipzig tatsächlich im Laufe der zweiten Halbzeit die Spielkontrolle übernahm, also beileibe nicht nur eine Mannschaft ist, die sich hinten reinstellen und kontern möchte. Wenn dieser Ansatz aber vorherrscht, muss die Borussia mehr Offensivkreativität auf den Platz bringen als gegen den Ballspielverein.  

Dabei zusehen werden wohl wieder mehr als 51000 Zuschauer, was reichen würde, um den Zuschauerschnitt auf einem Rekordkurs zu halten: 53 396 Zuschauer sahen die Spiele der Borussia im Schnitt der bisherigen Begegnungen zuhause.  

So, jetzt habe ich doch glatt die ganzen Wortspiele vergessen. Naja, dann ballere ich die jetzt einfach hier am Ende raus. Kollege Spoo hat am Wochenende Dienst, der darf sich gerne was aussuchen, dann kann er Sonntag länger schlafen: Kiel und Punkte holen! Nach Kiel auf Kurs! Kieler Woche dauert nur 90 Minuten! Unter dem Kiel und über den Erwartungen. Im Kielwasser statt Zielwasser. Über Kiel zum Ziel. Große Welle wegen Kiel. Naja, und so weiter. Kiel treibt keinen Keil in die Redaktion, das zeigen auch unsere Tipps: 

Michael Heinen: Das Heimspiel gegen Kiel kann eigentlich nur dann nicht gewonnen werden, wenn die Mannschaft zu sehr davon ausgeht zu gewinnen. Aber nein, selbst dann muss dieser pflichsiegigste aller Pflichtsiege eingefahren werden. Borussia gewinnt mit 2:0 und springt zurück in die obere Tabellenhälfte. 

Christian Spoo: Wenn es eine Pflichtaufgabe gibt, dann ist es diese. Gerne hat Borussia in der Vergangenheit gerade solche sicher geglaubten Punkte verschenkt. Es ist ein Zeichen für gewachsene Reife, dass die Mannschaft sich eine solche Blöße nicht gibt. Mit einem so unspektakulären wie -gefährdeten 2:0 erreicht Borussia das Etappenziel >20 Punkte auf dem Weg zum Klassenerhalt. 

Mike Lukanz: Es sind diese Heimspiele, die Borussia wieder zu gewinnen scheint. Gegen Kiel reicht eine konzentrierte Leistung ohne Glanz für einen 1:0-Arbeitssieg. 

Michael Oehm: Die ganze Welt erwartet einen Heimsieg, da wissen wir doch alle, was passieren wird. Ich scheinbar nicht: Es reicht für ein erzittertes 1:0.  

Anmerkung: In einer früheren Version stand, Kevin Prince Boateng sei Reus auf den Fuß gehüpft. Es war aber ein anderer Schalker. Danke für den Hinweis.

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