EM 2024: Ein Großer, der sich klein macht – zum Rücktritt von Thomas Müller
Diese Nationalmannschaft war seine Mannschaft, er prägte sie wie keine zuvor. Leise, im Hintergrund. Jetzt hört Thomas Müller auf – weil er weiß, dass er das Team gut aufgestellt hat.
Um zu verstehen, was Thomas Müller richtig macht, hilft ein Blick auf Manuel Neuer, dem gerade einiges missrät.
Nach dem 1:2 gegen Spanien im EM-Viertelfinale sagte Neuer, dass er sich Zeit lassen werde mit der Entscheidung, ob er seine Karriere in der Nationalmannschaft fortsetzt. Womöglich dauere dies "ein halbes Jahr oder länger". Nicht nur Marc-André ter Stegen, 32, der schon ein halbes Torwartleben lang darauf wartet, die Nummer eins zu werden, muss dies als Drohung verstanden haben. Auch den DFB werden die vagen Worte verstören, denn schon im September stehen die nächsten Länderspiele an. Bis dahin muss geklärt sein, wer im Tor steht.
Neuer, 38 Jahre, 124 Länderspiele, führt in diesen Tagen vor, wie man sein Spätwerk als Fußballer beschädigt. Alles im Ungefähren zu lassen und sei es zum Schaden anderer – so unverzichtbar ist Neuer schon lange nicht mehr, als dass er sich diese Pose würde leisten können.
Er tut es trotzdem.
Man muss den Fall Neuer so ausführlich schildern, weil er das Negativ ist zum Abschied von Thomas Müller. All das, was Neuer derzeit vermasselt, glückt Müller.
Er war nur Ersatzspieler bei der EM, geht aber als Held
An diesem Montag hat er seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft bekannt gegeben, nach 14 Jahren, 131 Spielen und acht Turnieren für den DFB. Auch wenn Müller nur Ersatzspieler gewesen ist bei der zurückliegenden Europameisterschaft, geht er doch als Held.
Er geht als Großer, weil er sich zuletzt klein gemacht hatte. Er, der Weltmeister von 2014, war der erste Diener seiner Mannschaft. Müller brachte alle zusammen, die Alten und die Jungen, die Stillen und die Lauten, die Hochbegabten und die weniger Talentierten, und er tat dies auf eine unscheinbare Weise, die ihm viele nicht zugetraut hätten.
Denn Müller hatte es jahrelang nur in Grell und Laut gegeben. Auch deshalb trug er den Spitznamen "Radio Müller", stets war er auf Sendung, kein Spiel, kein Training, das nicht von ihm betextet wurde. Und wenn das Publikum lachte über seine Späße, war ihm das eine Verpflichtung, gleich den nächsten Gag nachzuschießen, auch wenn er gerade keinen guten wusste.
Thomas Müllers wundersame Wandlung
Dass dieser Thomas Müller sich auch zurücknehmen und im Hintergrund wirken kann, obwohl er die große Bühne so gern bespielt, das ist eine der wundersamsten Geschichten dieser EM. Müller lieferte in den zurückliegenden Wochen eines der besten Turniere seiner Karriere ab – aber draußen auf der Bank und im Camp, in Herzogenaurach. Keine Pressekonferenz gab er, kein längeres Interview, auch im Fernsehen kein Auftritt. Er, der Außenminister, wirkte nur nach innen.
Julian Nagelsmann war es, der Müllers Wandlungsfähigkeit früh erkannte. Seit seinem Amtsantritt im vergangenen Herbst hat Nagelsmann ihn immer wieder berufen, obwohl es Stärkere gab im offensiven Mittelfeld. Anderen Altgedienten wie Mats Hummels oder Leon Goretzka traute der Bundestrainer dies nicht zu: den Schmerz, nicht mehr zur ersten Elf zu gehören, wegzudrücken und diese Mannschaft trotzdem zu lieben, in der es keinen Platz mehr für einen selbst gibt.
Und oft genug ist dies ja auch schief gegangen in der Geschichte der deutschen Nationalmannschaft, wenn ein alternder Riese in eine neue Rolle finden musste. Man erinnere sich nur an Oliver Kahn bei der WM 2006, dem letzten großen Turnier in Deutschland. Wenn Kahn wie in Zeitlupe auf der Ersatzbank Platz nahm, meinte man diese fast brechen zu hören vor lauter Gravitas und Geschichtsschwere, die Kahn dort ablud. Er bewegte sich eckig, betont umständlich, der Mond schien ihm ein vertrauteres Gelände zu sein als diese Ersatzbank. Über Jens Lehmann, der an seiner Stelle spielte, verlor Kahn zwar kein böses Wort – aber auch kein gutes. Die WM saß er kaugummikauend ab. Danach war Schluss.
Er war der Klebstoff, der die losen Enden im Team verband
Man muss all dies mitdenken, wenn es darum geht, die Leistung von Thomas Müller zu würdigen. Dass sich ein Spieler seines Formats noch einmal neu definiert mit Mitte 30, ist außergewöhnlich.
Manuel Neuer fragt sich gerade, was für ihn das Beste ist. Ob er noch ein Jahr dranhängen mag oder nicht; er lotet das über Wochen, wenn nicht gar Monate aus. Thomas Müller hat sich vor der EM gefragt, was für die Mannschaft das Beste ist. Wie er der Klebstoff sein kann für dieses Team, das erst im März nominiert wurde und so viele lose Enden hatte.
Es ist eine schöne Pointe, dass Müller – wenn er mal spielte bei der EM – eine ähnliche Rolle auf dem Platz einnahm wie außerhalb. Er suchte sich dort selbst seine Aufgaben. Den jungen Musiala, Wirtz und Havertz, die ihn aus der Startelf gedrängt hatten, fegte Müller hinterher. Er sammelte ihre verlorenen Bälle ein, er versuchte ihr Spiel zu ordnen, er hatte den Blick dafür, was es gerade braucht, um jemand anderen glänzen zu lassen.
Wenn es zuletzt hieß, die Stimmung in der Nationalmannschaft sei nie besser gewesen in den vergangenen 20 Jahren als bei dieser EM, dann durfte Müller dies als Kompliment für sich begreifen.
Tränen nach dem Spanien-Spiel, seinem letzten
Womöglich wurde ihm nach dem Spanien-Spiel bewusst, welche Mannschaft er da verlassen wird. Er stand da auf dem Rasen des Stuttgarter Stadions mit verweinten Augen, er, der Mann des Wortes, stammelte, dass es "realistisch betrachtet" schon möglich sei, "dass das mein letztes Länderspiel gewesen ist". So aufgelöst hatte man Müller noch nicht gesehen, selbst nach der völlig missratenen WM 2022 in Katar nicht.
Jetzt aber, nach ein paar Tagen Abstand, ist die Trauer aus ihm gewichen. Müller hat erkannt, dass diese Mannschaft, die so sehr seine ist, auch ohne ihn eine gute Zukunft haben wird. Müller hat sie geformt. Er hat dafür gesorgt, dass sie gewachsen ist bei der EM, in manchen Momenten über sich hinaus sogar.
Müller weiß, sein Werk ist vollbracht. Er kann gehen.