US-Turnstar: Simone Biles ist zurück. Gelingt ihr großes Comeback bei Olympia?

US-Turnstar: Simone Biles ist zurück. Gelingt ihr großes Comeback bei Olympia?

Star-Turnerin Simone Biles hat einen steinigen Weg hinter sich – mit dem Scheitern auf größter Bühne, Depressionen, Missbrauch. Den Sport prägt sie schon lange, nun wieder Olympia?

Der Bass vibriert wie ein Herzschlag. Sechs Mal. "...Ready For It?" von Taylor Swift dröhnt aus den Boxen. Natürlich betritt die beste Turnerin der Welt die Matte mit der Musik des größten Popstars der Welt. Und Simone Biles legt los. 

Nach einer zweijährigen Pause ist sie mehr als bereit für ihre dritten Olympischen Spiele. Biles hätte es nicht nötig, in Paris anzutreten. 37 Medaillen bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen hat die Ausnahmeturnerin geholt. Fünf Turnübungen, Elemente genannt, sind nach ihr benannt – bisher. Kurz vor ihrer Kür hat sie ein sechstes angekündigt, das sie am Sonntagmorgen zeigen will. Dabei dachte sie nach ihren letzten Spielen in Tokio, ihre Karriere sei beendet.

Der Tiefpunkt folgt ausgerechnet bei Olympia

Sommer 2021. Die Coronapandemie legt alles lahm. Auch vor dem größten Sportereignis der Welt macht das Virus keinen Halt. Die Olympischen Spiele finden in Japan statt. Die Auflagen: hoch. Familie oder Begleitpersonen für die Athletinnen und Athleten sind nicht erlaubt. Der Druck: zu hoch. Auch für eine Ausnahmesportlerin wie Biles. Die Turnerin leidet zu diesem Zeitpunkt seit Wochen an den "Twisties", wie es im Turnen heißt, verliert also ihre Orientierung bei Sprüngen. Nach der ersten Übung bricht sie ab und sorgt damit für Aufsehen in der Sportwelt. Denn sie begründet den Abbruch mit ihrer mentalen Gesundheit.

Drei Jahre später erinnert sie sich: "Wenn mein Knöchel gebrochen gewesen wäre, wäre ich vielleicht angetreten", sagt Biles in einer kürzlich erschienen Netflix-Dokumentation über ihr Leben. "Aber das war nicht der Fall. Bei meiner geistigen und körperlichen Verfassung hätte ich mich deutlich schwerer verletzten können, als am Knöchel." 

Waghalsige Sprünge sind für die 27-Jährige nicht Ausnahme, sondern Standard. Verliert sie dabei die Orientierung, könnte sie sich schwer verletzten oder sterben. Eine tatsächliche Ausnahme ist jedoch, dass eine Sportlerin auf diesem Niveau ihre mentale Gesundheit in den Vordergrund stellt.

Drogen, Missbrauch, Depressionen

Die "Dämonen" von denen sie nach dem Olympia-Abbruch spricht, haben eine lange Vergangenheit. Biles' leibliche Mutter hatte ein Drogen- und Alkoholproblem, die insgesamt vier Kinder wurden ihr weggenommen. Als Kleinkind war sie im Pflegeheim, bevor ihre Großeltern sie und ihre kleine Schwester adoptierten. Die Großeltern, die sie ihre Eltern nennt, bringen sie zum Turnen und erkennen sofort das Talent der kleinen Simone.Mentale Gesundheit Biles Vorbild 11-20

Im Leistungssport feiert sie frühe Erfolge. Ihren vorläufigen Karriere-Höhepunkt feiert sie bei den Olympischen Spielen in Rio 2016. Fünf Medaillen gewinnt sie dort, davon vier in gold. Danach kommen die Depressionen. "Nach der Reise habe ich gedacht: Ich habe mit 19 Jahren alles erreicht. Was zur Hölle mache ich mit dem Rest meines Lebens?" sagt Biles in der Netflix-Dokumentation. "Ich wusste nur, ich musste mich ausruhen. Aber ich konnte nicht." Dann kommen die Medienberichte.

Der Erfolg der US-Athleten wurde durch ein System geschaffen, das die Beteiligten ruinierte. Was damals als Goldstandard des Trainings gilt und Erfolge brachte, geht über Fahrlässigkeit weit hinaus. Der US-Turnverband lieferte Biles wie viele andere minderjährige Athletinnen und Athleten aus – an militärische Trainer die keine Gefühle erlaubten. Und an den missbräuchlichen Sportarzt Larry Nassar. 265 Turnerinnen missbrauchte Nassar in 20 Jahren, auch Simone Biles. Erst 2016 wurde der Arzt verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe von 175 Jahren verurteilt. Rund eine Milliarde Dollar Entschädigung bekamen die Überlebenden bis heute zugesprochen. Weil ihnen nicht geglaubt wurde. Weil niemand den Missbrauch verhinderte.

"Mir wäre ein kompletter Zusammenbruch lieber gewesen"

Ihren mentalen Tiefpunkt in Tokio bewertet Biles heute als Folge dieser Traumata. "Mir wäre ein kompletter Zusammenbruch lieber gewesen. Aber eben wann anders." Nicht ausgerechnet bei Olympia, worauf Profisportlerinnen und -sportler ihr Leben lang hinarbeiten. Auch wenn sie viel Unterstützung erfährt, für den Abbruch wird sie in sozialen Netzwerken als "Quitter" beschimpft. Als Feigling. Als eine, die aufgibt. Dabei tut sie das Gegenteil. 

Biles sucht sich Hilfe, geht in Therapie. Und ermutigt mit ihrer Offenheit andere Betroffene: "Viele Menschen haben sich dadurch gesehen gefühlt und haben sich Hilfe gesucht", sagt sie bei Netflix. Auf ihrem eigenen Weg unterstützt sie auch ihr Mann, NFL-Spieler Jonathan Owens. Das Paar heiratete im Mai 2023.

Olympia Paris Eröffnungsfeier 2.37

Simone Biles: 1,42 Meter pure Kraft

Biles hat die Spiele jetzt schon verändert. Gemeinsam mit anderen Sportlerinnen wie Naomi Osaka. Denn das Internationale Olympische Komitee hat Konsequenzen aus dem mentalen Druck gezogen: Seit Tokio wurden hunderte Trainerteams und Mitarbeitende im Bereich psychischer Gesundheit geschult, auch Psychologen stehen in Paris zur Verfügung. Eine Neuheit.

Biles müsste nach all diesen Erfahrungen nicht zurückkommen. Doch sie will. Eineinhalb Jahre lang quält sie sich in der Sporthalle, baut Grundlagen neu auf – und hat die "Twisties" heute im Griff. "In diesem Sport ist so viel passiert, das mir eine höllische Angst gemacht hat", sagt sie in der Dokumentation. "Da konnte ich nicht zulassen, dass er mir diese letzte Sache auch noch nimmt". Sie wollte "keine Angst mehr" vor dem Sport haben, der das 1,42 Meter große Kraftpaket ihr Leben lang begleitet hat und sie zu einer der besten und bekanntesten Sportlerinnen der Welt gemacht hat.

In Paris könnte sie bis zu zehn Rekorde brechen – als älteste Turnerin seit 72 Jahren, die in einem olympischen Frauenteam antritt. Biles scheint es wie im Swift-Song zu halten: "Baby, let the games begin!" Lasst die Spiele beginnen.

Quellen:  "New York Times", "Sports Illustrated", Netflix, Sport1, "Tagesspiegel", "NBC"

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