Neue Nummer eins im DFB-Team: Der Schmerzensmann ist erlöst: Was ter Stegen so einzigartig macht

Der Kampf um den Platz im deutschen Tor ist oftmals erbittert geführt worden. Bis Marc-André ter Stegen kam, Demütigungen ertrug – und seinen ärgsten Konkurrenten umarmte.

Um die Leistung des Torwarts Marc-André ter Stegen bemessen zu können, bräuchte es eine eigene Kategorie – fernab jener Statistiken, die abgewehrte Flugbälle, parierte Elfmeter und gespielte Pässe zählen. Eine Kategorie, die das gesammelte Schweigen von ter Stegen erfasst. 

Darin liegt nämlich die eigentliche Klasse des früheren Gladbachers: dass er nicht nur das Tor zu hüten vermag, sondern auch seine Zunge. 

Seit zwölf Jahren schon ist ter Stegen Mitglied der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, und in diesen zwölf Jahren hatte er einen Gegner, der unbezwingbar war für ihn. An Manuel Neuer kam ter Stegen einfach nicht vorbei, selbst als dieser schwächelte nicht. Neuer war die Nummer eins, das galt den Bundestrainern Löw, Flick und Nagelsmann als Naturgesetz. 

PAID Manuel Neuer Kommentar 20.00

Von Joachim Löw gedemütigt

Es gab Momente für ter Stegen, in denen andere Torhüter ihre Wut und Enttäuschung in die Welt hinausgerufen hätten. Momente, wie jenen im Sommer 2018, als Neuer aus einer langen Verletzungspause zur Nationalmannschaft zurückkehrte und Joachim Löw ihn gleich zum Stammkeeper für die bevorstehende WM in Russland erklärte. Der Subtext von Löws Entscheidung lautete damals: Ein gerade vom Mittelfußbruch genesener Neuer ohne Wettkampfpraxis ist immer noch besser als ein gesunder ter Stegen, der eine starke Saison beim FC Barcelona gespielt hat. 

Es war absurd, es war empörend, eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. 

Ter Stegen aber schwieg. 

Nun endlich, nach ungezählten Rückschlägen und Demütigungen, wird ter Stegen für seine Loyalität belohnt. Am Samstagabend, im Nations League-Spiel gegen Ungarn in Düsseldorf, wird er erstmals das Trikot mit der Nummer eins tragen. Es ist die Eins von Manuel Neuer, der im August zurückgetreten ist im Alter von 38 Jahren, nach 124 Länderspielen und einem gewonnenen WM-Titel 2014. 

Marc-André ter Stegen würdigt Neuers DFB-Karriere

„Die Warterei hat ein Ende“, so lakonisch kommentierte ter Stegen am Donnerstag seinen Aufstieg vom Stammtorhüter. Bei seinem Auftritt in Herzogenaurach war nichts zu spüren von später Genugtuung, aus seinen Sätzen sprach nichts Triumphales. Im Gegenteil. Ter Stegen nutzte das Pressegespräch, um jenen Mann mit Worten zu umarmen, der ihm mehr als ein Jahrzehnt lang das Licht genommen hatte. „Herzlichen Glückwunsch an ihn für das, was er in der Nationalmannschaft erreicht hat“, sagte ter Stegen und meinte Neuer, dem er eine „tolle Karriere“ bescheinigte. 

Nagelsmann Nations League Kader 11:55

Solche Sätze hat man nicht oft vernommen im Torwartland Deutschland. Nationaltorhüter, das waren per Definition Typen, die sich für überlebensgroß hielten, für unersetzlich und einzigartig zugleich. 

Die Geschichte der Torwartkriege ist lang

Auch deshalb hat es einige Torwartkriege gegeben beim DFB, angefangen in den 1960-er Jahren, als Hans Tilkowski mit Stühlen um sich warf, nachdem er von Sepp Herberger erfahren hatte, dass der junge Wolfgang Fahrian vom zweitklassigen Oberligisten SSV Ulm bei der WM 1962 im Tor stehen würde. 

Oder in den 1980ern: Uli Stein gegen Toni Schumacher. Der Eklat bei der WM 1986, als Stein Teamchef Beckenbauer als „Suppenkasper“ beschimpfte, weil der sich für Schumacher entschieden hatte. 

Oder in den 2000ern: Kahn gegen Lehmann. Ausgerechnet vor der Heim-WM 2006 wurde Kahn zur „Nummer 1b“ von Trainer Klinsmann degradiert. Als der mit der Aussage konfrontiert wurde, es gebe Experten, die Lehmann für den besseren Torwart hielten, erwiderte Kahn: „Es gibt auch Leute, die sagen, es gebe Außerirische.“ Lehmann reagiert mit Kontaktabbruch. „Ich wüsste nicht, was wir reden sollten“, sagte er. Erst kurz vor dem WM-Viertelfinale gegen Argentinien versöhnten sich die beiden wieder. Kahn klopft Lehmann auf die Schulter, als es ins Elfmeterschießen ging (es war jenes mit dem Zettel unter Lehmanns Stutzen). 

Man muss all diese Scharmützel mitdenken, wenn es einst Marc-André ter Stegens Karriere zu würdigen gilt. Er ist der erste deutsche Weltklasse-Torhüter, der kein Gift versprüht hat und sein Schicksal als Nummer zwei mit Fassung trug. Er machte die Dinge mit sich aus und wartete geduldig auf den Tag, an dem sich das Glück ihm zuneigt.

NFüllkrug 19:17

Dieser Tag ist nun gekommen. Ter Stegen, der stille Schmerzensmann, ist erlöst. Er rückt auf in die Stammelf, aber die ganz große Karriere – und darin liegt eine neue Tragik – wird er nicht mehr machen beim DFB. 

Er ist bereits 32 Jahre alt. Ein Alter, in dem viele Spieler ans Aufhören denken. Nur eben Manuel Neuer nicht, wie ter Stegen leidvoll erfahren hat. 

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