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M. Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier: Der Strand Gottes

Stern 

Eine Kolumne lang den Urlaub beschwärmen? Unser Kolumnist ist so frei. Denn wenn Neapel ihn eines gelehrt hat, dann Zügellosigkeit.

Diese Stadt ist eine Zumutung. Neapel. Für uns, die wir in den 80ern sozialisiert worden sind, war Napoli zunächst einmal eine von Spaghetti untrennbare Zustandsbeschreibung. Spaghetti Napoli. Wie das schon klang! Ein von der Werbeindustrie gemalter Ort, an dem die Kinder fußballspielend durch enge Gassen stoben, bis Mamma Mirácoli sie gütig, aber bestimmt von einem wäschebehangenen Balkon an den Esstisch rief, die Spätnachmittagssonne im Nacken.

Wer, wie ich, dann erst einmal dort ist, muss feststellen: Genau so sieht es da aus. Nur, dass die Pasta-Patronin in der Realität, wie so ziemlich alle hier, eine Maradona-Fahne vom Geländer hängen hätte. Wäre die Gute nicht eine Erfindung der Billignudelmafia, sie wäre wohl bereits tot und womöglich als Foto ausgestellt in einem der vielen kleinen Schreine, die etwa in den Gassen des Quartieri Spagnoli die Hauswände zieren. Verstorbene Familienmitglieder, verdiente Clanbosse oder eben der omnipräsente Diego Maradona bleiben hier unsterblich. Maradona. Maradona. Immer wieder Diego Armando, dessen Porträt Fahnen, Hauswände, ja sogar Urnen ziert – für diejenigen, die auch nach ihrem eigenen Ableben dem fußballerischen Erlöser Neapels ganz nah sein wollen. In der kapellengleichen Bar Nilo ist sogar eine Locke von ihm ausgestellt. Was der einmalige Fall sein dürfte, dass Gäste sich über das Haar in der Suppe oder zumindest dem Espresso regelrecht freuen würden.kurzbio beisenherz

Wo sonst, wenn nicht hier am Golf, hätte die argentinische Legende der Leidenschaft ihre Erfüllung finden sollen. Alles hier atmet Passion, Lust, Wildheit, Chaos, ein Leben am Rande der Legalität. Nicht ohne Grund wurde der literarische Mafiajäger Roberto Saviano von seiner neapolitanischen Heimat verstoßen. Heiß ist es hier nicht nur auf der Skala des Thermometers. Weil es neben dem Ranz auch so viel Kultur gibt, möchtest du aber nicht nur in praktischer Kleidung herumlaufen, ein wenig Grandezza will man auch zurückgeben, selbst wenn das Sakko nach fünf Minuten am Rücken klebt. Napoli ist sexy und ein bisschen gefährlich – und sexy, wenigstens das willst du auch sein. Hier ist alles ein bisschen lauter, ein bisschen weniger gelackt und improvisiert, jede Geste ein wenig ausladender.

Das New York Süditaliens: Napoli

Gardasee ist für Einsteiger, Süditalien muss man wollen. Auf Sizilien war ich schon. Und Sardinien ist gewiss schön, wenn man nicht gerade in Porto Cervo ist, einer grotesken Outside-Mall, in der eine Legion überspannter Dior-Androiden darauf wartet, dass endlich Frauke Ludowig mit einem Schlauchboot zum Interview vorbeikommt. Bei einem trostlosen Ausflug in diesen Unort wurde meine Frau von einem Dackel angefallen. Bis heute behauptet sie, ich hätte den Teckel dazu angestiftet. Eingedenk der Furzlangweiligkeit dieses überteuerten Sackbahnhofs für Implantierte wäre es mir nicht zu verübeln.

Autor Micky Beisenherz in Neapel
© privat

Dann lieber das New York Süditaliens, Napoli. Hier ist alles so echt, dass es fast weh tut. Und man ergibt sich dem Klischee. Hier ist Italien selbst für Italiener fast zu italienisch. Deutsch ist hier in etwa so verbreitet wie Kartenzahlung: Kommt gelegentlich vor. Trinkgeld wird grundsätzlich nur Cash gezahlt. Toskana ist Eros Ramazotti. Neapel ist Freejazz. Während man in Bardolino mit einem Mietwagen entspannt durch die Straßen gondelt, gleicht der neapolitanische Stadtverkehr einer Nahtoderfahrung. Ein infrastruktureller Slang, den zu verstehen oder gar sprechen nur die Mutigsten in der Lage sind. Spurwechseldarwinismus. Teure Autos ergeben hier so wenig Sinn wie Daunenjacken. SUVs sieht man selten. Sie würden kaum durch die engen Gassen passen, unverdellt durch den Stadtverkehr kommen oder schlicht ungestohlen bleiben.

Lust schlägt Legalität

Da, wo Soldaten im Flecktarn um das wunderschöne Café Letteria patrouillieren, während Studenten live die Trompete zum Negroni spielen, muss man angstfrei sein. Eine Stadt, die um den Vesuv herum gebaut ist, tanzt nicht nur bildlich auf dem Vulkan. Würde er ausbrechen – es könnte kaum heißer sein in an jenen Tagen im Hochsommer, an denen ich am Hafen entlang schlendere. Durch Parks mit verbranntem Gras, den Blick auf die wundervolle Architektur gerichtet. Ich beobachte Männer, die wie Leguane in knappen Badehosen auf schweren Steinen in der Sonne liegen und ihr Sandwich essen. Dort, wo es beständig 40 Grad hat, bekommt Pausieren einen ganz anderen Stellenwert. Familien, die auf steinernen Vorsprüngen im Hafenbecken auf Plastikstühlen an Plastiktischchen mit Decken sitzen, das Wasser umspielt ihre Füße. Sie haben es alle durch ein Loch im Zaun die paar Stufen nach unten zum Wasser geschafft, während oben an der Balustrade ein alter Streifenpolizist mit Pilotenbrille die Szenerie betrachtet. Lust schlägt Legalität.Camorra-Aussteiger 12.55

In der Ferne die Yachten der Superreichen, die längst mitbekommen haben, wie schön es hier ist. Wer keine besitzt, der nimmt die Fähre nach Capri, Ischia oder Sorrent. Ein Ort, so wunderschön, dass man weinen möchte. La Brande Bellezza. Ging vor Jahrzehnten schon Sophia Loren so, die 1955 hier "Liebe, Brot und 1000 Küsse" gedreht hat, weshalb man hier an jeder Ecke Bilder von ihr erblickt. Hier findet man die Ruhe, die man in Neapel vergeblich sucht, blickt versonnen über die Bucht, isst Pulpo a la Luciana (Tomatensauce, Oliven, Kapern und eigene Tinte), trinkt ein eiskaltes Birra Messina. 

Jeder zweite Mann, der im Hafen erfolgreich eine Bar, ein Restaurant, einen Beachclub betreibt, ist Anfang 50, muskulös, glatzköpfig und heißt Raffaele. Der Zufall will es, dass ich um den 26. Juli da bin. Jedes Jahr um diese Zeit prozessiert die Gemeinde durch den Hafen, um der Heiligen St. Anna zu huldigen. Aufgetakelte Alte, geschminkte Mädchen, Halbstarke. Das Blasorchester. Das ganze Dorf ist unterwegs. Neben Olivenöl und Fisch ist es gerade der Sinn für Gemeinschaft, der uns ein hohes Alter schenkt. Es kommen die Italiener von Capri, die Deutschen von Ischia und die Amerikaner aus Positano, um dabei zu sein. Wenn es dunkel ist, säumen Zuschauer die Serpentinen, um von oben auf das spektakuläre Feuerwerk zu blicken, das eine ganze Stunde lang den Himmel über Hunderten von Booten in der Bucht erleuchtet. Lauter wird es hier das ganze Jahr nicht mehr. 

Aber wer will, dass es ordentlich knallt, muss nur die Fähre zurück nach Neapel nehmen. Das wusste schon Maradona. Er grüßt als Engel mit Pokal und Flügeln von der Hauswand gegenüber, während ich meinen letzten Negroni im Letteria trinken. In der Hose einen Zwanziger. Cash.

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