World News

Verzweifelte Appelle: Bundesregierung fürchtet Chaos bei Evakuierung aus Libanon

Stern 

Mit immer deutlicheren Aufrufen fordert die Bundesregierung Deutsche dazu auf, Libanon zu verlassen. Viele scheinen dem Ruf bisher nicht zu folgen. Dabei könnte eine Evakuierungsmission schnell im Chaos enden.

"Ich will jetzt raus", sagt Dilek Gürsel, die für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Libanon arbeitet. Sie fürchtet: "Vielleicht könnte eine Ausreise aus Libanon bald deutlich komplizierter werden." Dann nämlich, wenn ein Krieg zwischen Israel und der von Iran unterstützten Hisbollah-Miliz ausbricht.

Nur: Schnell musste Gürsel feststellen, dass es gar nicht so einfach ist, einen Platz auf einem der wenigen Flüge aus Beirut zu ergattern. Längst haben europäische Fluggesellschaften den Flugverkehr gen Libanon eingestellt. Andere Verbindungen wurden zuletzt kurzfristig abgesagt. In jedem Fall sind die Flugpreise für One-Way-Tickets seit vergangener Woche in die Höhe geschnellt.

Noch mindestens 3000 Deutsche in Libanon

Immer deutlicher hatte das Auswärtige Amt in den vergangenen Tagen an die mindestens 3000 Deutschen appelliert, die sich noch immer in Libanon aufhalten: "Wir rufen alle Deutschen zur dringenden Ausreise auf."

Passagiere warten am Beiruter Flughafen auf ihre Ausreise
© Marwan Naamani/dpa

Niemand solle sich darauf verlassen, dass die Bundesregierung ihn rausholen werde, wenn ein Krieg ausbreche. "Eine Evakuierungsoperation ist keine Pauschalreise mit Reiserücktrittsversicherung, sondern mit Gefahren und Unsicherheiten verbunden", sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amts. Am Donnerstag verschickte die Botschaft in Beirut einen Landsleutebrief, der in anderen Worten Ähnliches ausdrückte. Darin stand auch: Eine Evakuierungsmission stehe nicht kurz bevor, die Bundesregierung treffe lediglich "theoretische Vorbereitungen" für den Kriegsfall.

Gürsel versucht deshalb weiter, mit einem kommerziellen Flug auszureisen. Kann sie noch eines der begehrten Tickets kaufen, wird sie wohl mit dem Taxi zum Flughafen fahren. Dann könnte sie aus dem rechten Fenster auf das grünlich schimmernde Mittelmeer blicken, aus dem linken auf Hisbollah-Gebiet. 

Anhängerinnen der Hisbollah-Miliz betrauern den Tod von Fuad Schukr, einem Hisbollah-Kommandeur
© Mustafa Jamalddine/AP/dpa

Einige der südlichen Vororte der Stadt sind fest in der Hand der schiitischen Miliz, einem engen Verbündeten des Iran. Dort tötete Israel vor gut einer Woche einen wichtigen Kommandeur der Hisbollah mit einem Luftschlag – nicht einmal zwei Kilometer entfernt vom Beiruter Flughafen. Nur einen Tag später ließ Israel Hamas-Führer Ismail Hanija im Iran umbringen.

Seitdem wartet der Nahe Osten sorgenvoll auf einen groß angelegten Gegenschlag Irans, an dem sich wohl auch die Hisbollah beteiligen würde. Damit könnte sich der schwelende Konflikt zwischen Israel und Iran zu einem regionalen Krieg ausweiten, ausgetragen auf dem Gebiet des Libanon.

Interview Miri Eisin 12:06

Würde Israel den Beiruter Flughafen bombardieren?

Vollkommen unklar, ob dann überhaupt noch ein Flugzeug landen kann, um die Deutschen zu evakuieren. Denn im Ministerium geht die Sorge um, dass alles wieder so kommen könnte wie 2006: Schon am zweiten Tag des letzten Libanon-Krieges bombardierten israelische Kriegsschiffe die Landebahn des Beiruter Flughafens. Eine andere Landebahn für Passagierflugzeuge gibt es im ganzen Land nicht. 

Das Auswärtige Amt musste damals andere Wege finden. Das Ministerium ließ Tausende Deutsche mit Bussen zum syrischen Flughafen Damaskus fahren, andere ins türkische Adana. Diese Routen sind heute versperrt. Also bliebe nur noch der Weg über das Meer.

Allem zum Trotz scheinen sich bis heute hunderte Urlauber in Libanon aufzuhalten. In den Sommermonaten fliegen traditionell viele Deutsche mit libanesischen Wurzeln zu ihren Familien. Im Auswärtigen Amt registrierte man mit Unverständnis: "Trotz bestehender Reisewarnung und Ausreiseaufforderung haben wir gesehen, dass in den letzten Wochen weiterhin Deutsche in den Libanon gereist sind." Seit Anfang vergangener Woche hat sich die Zahl derer verdoppelt, die sich auf der Krisenliste des Auswärtigen Amts eintrugen.

Gürsel, die jetzt ausreisen möchte, aber hofft, dann bald wieder nach Beirut zurückkehren zu können, sagt: "Manche möchten bei ihrer Familie sein, wenn etwas Schlimmes passiert. Vor allem, wenn die Angehörigen nicht ausreisen können, weil sie für Europa kein Visum erhalten."

Nahost Analyse 20:30

"Die Warnungen scheinen nicht zu funktionieren"

Katrin Prütz betreibt nördlich von Beirut einen Beautysalon und ein deutsches Restaurant. Sie sagt: "Die Deutsch-Libanesen kommen noch immer zu uns. Die Warnungen scheinen nicht wirklich zu funktionieren." 

Längst hat man sich in Libanon an die Mahnungen westlicher Regierungen gewöhnt. Das Land steht mindestens seit Beginn des Gaza-Krieges jeden Tag kurz davor, in den Krieg hineingezogen zu werden. Viele in Libanon reagieren darauf mit einem stoischen Optimismus, nach dem Motto: So schlimm wird es schon nicht werden.

Katrin Prütz und ihr Sohn Henry betreiben nördlich von Beirut ein Restaurant und einen Schönheitssalon – und wollen das trotz Kriegsgefahr auch weiter tun
© privat

Eine Haltung, die sich die Deutsche längst angeeignet hat. In ihren 18 Jahren in Libanon habe sie gelernt: "Wer nicht positiv bleibt, macht sich so viele Sorgen, dass er hier kaum überleben kann", erzählt sie am Telefon. Und noch lebe sie in ihrem Haus in den Bergen – weit weg von Hisbollah-Stellungen – sehr angenehm. Prütz will bleiben.

Auf Bundeswehr-Rettung zu setzen sei "verantwortungslos"

Der Bundeswehr hilft der Optimismus freilich wenig. Denn jeder Deutsche, der evakuiert werden muss, erhöht die Risiken der Operation. "Wenn der Eindruck entsteht, die Luftwaffe macht das sozusagen aus dem Ärmel heraus, dann ist das ein falscher Eindruck", sagt Arne Collatz, Pressesprecher des Verteidigungsministeriums.

Wenn Deutsche in Libanon sich weigerten, auszureisen, weil sie auf eine Rettung durch die Bundeswehr vertrauten, sei das "verantwortungslos, auch gegenüber den beteiligten Soldaten". Im Landsleutebrief schreibt die Botschaft an Betroffene: Sollte sich die Lage verschärfen, könnten Deutsche womöglich wochenlang auf sich allein gestellt sein.

Mit der frühzeitigen Aufforderung zur Ausreise will die Bundesregierung offenbar verhindern, dass eine Evakuierungsmission aus Beirut ähnlich chaotisch verläuft wie 2021 aus Kabul. Damals warnte das Auswärtige Amt viel zu spät. Die Bundeswehr ging große Risiken ein, nur deshalb konnten tausende Zivilisten aus Afghanistan ausgeflogen werden. Nach elf Tagen musste die Mission abgebrochen werden – es war zu gefährlich geworden, in Kabul zu landen.

Offen ist, wo Schiffe anlegen könnten

Sollte auch über Beirut kein Flugverkehr mehr möglich sein, müssten Deutsche wohl mit Fähren oder Kriegsschiffen nach Zypern gebracht werden. Die dortige Regierung hat die Insel am Donnerstag als Drehkreuz für Evakuierungsaktionen angeboten. Offen ist nur, wo deutsche Schiffe in Libanon anlegen könnten: Der Hafen von Beirut sei nach der gigantischen Explosion vor vier Jahren "nicht vollständig operabel", hieß es aus dem Auswärtigen Amt.

Im August 2020 explodierte im Hafen von Beirut ein Silo voller Ammoniumnitrat. Bis heute ist der Hafen nicht vollständig operabel
© AP Photo/Hussein Malla

Eine Evakuierungsmission aus Libanon, sollte das Auswärtige Amt sie beschließen, ist mit großer Unsicherheit behaftet – für die Soldaten der Bundeswehr wie für die Evakuierten. Für Katrin Prütz aber scheint die Rückkehr nach Deutschland das größere Wagnis: "Ich habe in Libanon alles", sagt sie, ihr Einkommen, ihre Angestellten, ihre Freunde. "In Deutschland habe ich nichts mehr." Nur wenn es richtig gefährlich werde, dann wolle sie nach Deutschland zurückgehen, sagt sie.

Ein Kamerateam hält folgenden Moment aus Prütz' Alltag fest: Sie ist gerade in ihrem Restaurant, da knallt es plötzlich laut, die Wände wackeln. "Das war's! Das war eine!", ruft sie und rennt weg von der Fensterfront. Im ersten Moment geht sie vom Einschlag einer israelischen Bombe aus, davon, dass gerade der Krieg losgegangen sei. Fehlalarm: Ein israelischer Jet hat über Prütz' Kopf die Schallmauer durchbrochen. Noch einmal alles gut gegangen. Die Frage ist nur: Wie lange noch?

Читайте на 123ru.net