Interview: Viele Mütter arbeiten weniger als sie wollen – wie ließe sich das ändern?
Mütter wollen mehr arbeiten, Väter weniger. In Summe bleibt ein Potenzial von 325.000 Vollzeitstellen, zeigt eine Studie. Was sich ändern muss, erklärt Familienforscher Martin Bujard.
Capital: Herr Bujard, Sie haben ausgerechnet, dass bei Eltern ein Potenzial an Arbeitsstunden im Umfang von 325.000 Vollzeitstellen schlummert. Wie ist es möglich, dass wir das übersehen haben?
MARTIN BUJARD: Es gab jahrzehntelang allgemeine Befragungen zur Arbeitsteilung und Gleichstellung der Geschlechter, die kaum Aussagekraft haben, weil viele Menschen eher nach der sozialen Erwünschtheit antworten. In unserer Studie haben wir Familien deshalb nach sehr konkreten Szenarien gefragt: Was ist die ideale Arbeitszeit für ein Paar, wenn das jüngste Kind zwei Jahre alt ist, was für die Mutter und was für den Vater? Dann haben wir verschiedene Szenarien durchgefragt, wenn die Kinder älter werden, um zu schauen, inwiefern sich die ideale Arbeitszeit verändert. Diese Werte haben wir mit der tatsächlichen Arbeitszeit verglichen – und wir haben bei der Familienstudie FReDA 30.000 Menschen zwischen 18 und 49 Jahren repräsentativ befragt, die Befunde haben also Substanz.
Haben Sie ein Beispiel, wie sich die ideale und die tatsächliche Arbeitszeit unterscheiden?
Wenn das jüngste Kind zwei Jahre alt ist – wir nennen diese Phase die "Rushhour des Lebens" – wird es als ideal angesehen, wenn die Mutter 21 Stunden arbeitet und der Vater 34 Stunden. Bei den Müttern deckt sich hier die ideale fast mit der tatsächlichen Arbeitszeit. Sie würden aber entlastet, wenn die Väter mehr Familienarbeit machen und in dieser Phase drei bis fünf Stunden weniger erwerbstätig sein würden. Wenn das jüngste Kind dann acht Jahre alt ist, liegt die ideale Arbeitszeit für Mütter fünf oder sechs Stunden über dem, was sie derzeit tatsächlich arbeiten. Hochgerechnet würden dem Arbeitsmarkt 645.000 Vollzeitäquivalente mehr zur Verfügung stehen, wenn Mütter entsprechend der Idealvorstellungen arbeiten würden, bei Vätern wären es 320.000 Vollzeitäquivalente weniger.
Die zentrale Erkenntnis Ihrer Studie ist also: Die Arbeitszeit ist nicht nur zwischen den Geschlechtern falsch verteilt, sondern parallel auch in den verschiedenen Lebensphasen.
Genau. Am wichtigsten ist, dass Mütter mehr arbeiten wollen, wenn die Kinder zwischen sechs und 18 Jahren alt sind. Das ist eine sehr lange Zeit, in der ein riesiges Potenzial an ungenutzten Arbeitsstunden liegt. Mütter hängen oft in der 50-Prozent-Falle fest oder sind als "Teilzeitmutter" abgestempelt. Sie werden zu wenig gefördert und bekommen im Job viel zu selten Verantwortung übertragen, obwohl sie massiv Freiräume gewinnen, je älter die Kinder werden. Die Arbeitskraft von Müttern nicht zu nutzen, ist absurd – vor allem, weil gerade Frauen in den Bereichen arbeiten, wo der Fachkräftemangel am größten ist: im Gesundheitssystem, in der Pflege und der Kinderbetreuung. Als Familienforscher weiß man, dass Mütter extrem gut organisiert sind. Ihr Talent steht dem, was man in Projektmanagementseminaren für viel Geld lernen kann, in nichts nach und diese Kompetenzen können Unternehmen mehr nutzen.
Grundsätzlich ist das Problem der ungleichen Verteilung lange bekannt. Warum können Mütter ihrem Wunsch danach, mehr zu arbeiten, oft immer noch nicht nachgehen?
Unsere Familienpolitik hat in den vergangenen 20 Jahren durch den Ausbau der Kinderbetreuung und das Elterngeld schon viel erreicht. Aber es gibt oft nur das "Entweder-Oder", halbe Stelle oder Vollzeit, und das passt nicht mehr in die heutige Zeit. Der Arbeitgeber sollte sich auch den Beschäftigten anpassen und nicht nur umgekehrt. Dazu gibt es Unternehmer oder Politiker die sagen: Wenn wir eine Vollzeit-Kinderbetreuung haben, dann sollen die Mütter doch bitte Vollzeit arbeiten, wenn das Kind ein oder zwei Jahre alt ist. Aber dieses Modell wollen Eltern selten in der Rushhour des Lebens, wie wir empirisch gemessen haben.
Was wünschen sich denn die meisten?
Für viele wäre es ideal, wenn die Mütter nach der Elternzeit zunächst 50 bis 60 Prozent arbeiten und guckt dann jedes Jahr, ob Interesse besteht, auf 70 oder 80 Prozent aufzustocken und sich so der Vollzeit anzunähern. Dafür muss man zum einen aktiv auf die Mütter zugehen und zum anderen schon anfangen Brücken zu bauen, wenn die Kinder noch klein sind. Man kann sich das wie eine Treppe vorstellen: Eine Stufe, die zwei Meter hoch ist, geht fast keiner. Wenn man aber Zwischenstufen baut, dann kann man sehr gut darüber gehen.
Es dürfte aber nicht das fehlende Verständnis der Arbeitgeber allein ein Problem sein, sondern auch die fehlende Planbarkeit. Es ist schwierig für sie, wenn nicht klar ist, wie es im nächsten Jahr mit der Arbeitszeit ihrer Angestellten weitergeht.
Die Organisation ist anspruchsvoller und natürlich eine Herausforderung für Unternehmen, Personalabteilungen und Vorgesetzte. Das muss man ehrlich sagen. Aber die Elternzeit, sowohl von Müttern als auch von Vätern, muss man auch organisieren, und ich finde, dass man so viel Engagement heutzutage von den Arbeitgebern erwarten darf. Immerhin würden sie so relativ einfach Fachkräfte gewinnen. Wenn alle rechtzeitig kommunizieren, was sie wollen, schafft das auch Planbarkeit.
KORR Väter wollen mehr für ihre Kinder da sein – tun es aber nicht. Wie sich das ändern kann 9.10
Die Verantwortung dafür, dass die Potenziale besser genutzt werden, liegt aber nicht bei den Unternehmen allein. Als wissenschaftlicher Beirat beraten Sie das Familienministerium und Parteien. Wie gehen die mit den Ergebnissen einer Studie wie Ihrer um?
Aktuell wird der Vorschlag der sogenannten dynamischen Familienarbeitszeit diskutiert, der von der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Familie (eaf) vorgelegt wurde und an dem ich auch beteiligt bin. Dieses Modell soll genau diese Rushhour des Lebens, von der Geburt bis zur Einschulung, überbrücken: Unmittelbar nach der Elternzeit gibt es einen Korridor von 70 bis 90 Prozent der Arbeitszeit, in dem die Eltern arbeiten können. Wenn beide in diesem Korridor arbeiten, erhalten sie einen staatlichen Zuschuss von monatlich 150 oder 200 Euro. Vätern würde das zum Beispiel ermöglichen, zehn Prozent weniger zu arbeiten, und Müttern, direkt mit 70 Prozent zu starten. Besonders für Mütter würde diese Regelung dazu führen, dass sie gar nicht erst auf das Abstellgleis der halben Stelle kommen, was wir gerade millionenfach sehen, und wir würden keine wertvollen Ressourcen vergeuden.
Und was könnte die Politik schon jetzt umsetzen?
Aus meiner Sicht ist die aktuelle Hauptaufgabe der Politik, dass die Kinderbetreuung verlässlicher wird. Das gilt sowohl für den Bund als auch für Länder und Kommunen. Beim Angebot der Kitaplätze haben wir in den vergangenen Jahren einen Rückschritt erlebt, da die Nachfrage gestiegen ist. Es fehlen Fachkräfte und es ist zu wenig Geld im System. Das geht zulasten der erwerbstätigen Eltern. Viele kennen es, dass die Betreuung kurzfristig ausfällt oder sie das Kind früher abholen müssen. Sie wollen arbeiten, können aber nicht. Das löst zusätzlichen Stress aus und ein schlechtes Gewissen, obwohl sie gar nichts dafür können. Der aktuelle Zustand der Kinderbetreuung ist unhaltbar und muss von der Politik verbessert werden.
Wie realistisch ist es also, dass man diese Arbeitsstunden, die 325.000 Vollzeitstellen entsprechen, wirklich zum Leben erwecken kann?
Es geht nicht von heute auf morgen. Aber es wird gelingen, wenn wir an den Stellschrauben drehen, die ich angesprochen habe: wenn die Kinderbetreuung verlässlicher wird, wenn Väter etwas weniger arbeiten und sich mehr engagieren, wenn die Kinder klein sind und wenn Unternehmen sich den Familienphasen stärker anpassen. Das entspricht dem, was die jungen Menschen erwarten und wie sie leben möchten.