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Neuer US-Trend: Hellblau oder Rosa? Wieso Gender Reveal Partys gerade boomen

Stern 

Das Influencer-Paar „FitnessCouple” veröffentlichte ein Video ihrer Gender-Reveal-Party. Binnen 24 Stunden schauten fast 800.000 Leute zu. Über einen Hype, der auch in Deutschland anläuft – und viel über die Selbstvermarktung unserer Zeit sagt.

Sanft gleitet die Hand mit einem Messer durch die weiße Torte. Sie ist verziert mit zitronengelben Herzchen, in der Mitte steht „Baby“. Die Hand im Video hebt ein Stück dreistöckiger Torte hoch, kippt es zur Seite. Rosa! 

Nächstes Video. Ein Pärchen steht vor einer glitzernden Wand, darauf der Schriftzug: „Boy or Girl?“. Die Frau hält einen Luftballon, der Mann sticht rein. Peng. Konfetti rieselt raus. Hellblau! 

Diese Videos werden millionenfach geklickt, auf YouTube, Instagram und auf TikTok. Es sind Videos von sogenannten „Gender Reveal Partys“. Übersetzt bedeutet das Geschlechtsenthüllungspartys – was aber niemand sagt, denn der Hype kommt aus Amerika. Und ist längst in Deutschland angekommen.  

Gender Reveal Partys sind ein ureigenes Internet-Phänomen. Die Bloggerin Jenna Karvunidis schrieb 2008 erstmals über einen „gender-reveal cake“, also einen Kuchen, dessen Farbfüllung das Geschlecht verkünden soll. Seitdem wird das Phänomen immer größer, immer explosiver. Inzwischen schneidet man nicht nur Kuchen an. Man mietet 55 Meter hohe Riesenräder, um sie aufleuchten zu lassen, man lässt Farbbeutel von Alligatoren zerplatzen, man zündet Rauchbomben aus Flugzeugen. Die Eskalation ist Teil des Konzepts, läuft bisweilen aber auch aus dem Ruder. In Kalifornien löste eine Gender Reveal Party einen Waldbrand aus, ein Pilot und ein Feuerwehrmann starben.  

Klischeebeladen bis zur Schmerzgrenze – eigentlich 

Eigentlich wirkt das alles wahnsinnig rückständig. Junge oder Mädchen? Hellblau oder Rosa? Zwei Geschlechter, zwei Farben – klischeebeladen bis zur Schmerzgrenze. Eigentlich. Aber während die einen für die Rechte von Transmenschen kämpfen, über geschlechtsangleichende Operationen diskutieren und dafür plädieren, weiblich und männlich nicht mehr als Gegensatz zu verstehen, gibt es eben die anderen, die in Luftballons stechen, um mit Konfettiregen die Geschlechtsidentität ihres Ungeborenen zu enthüllen. Warum sind diese Videos so beliebt? Erleben wir einen Rückfall in alte Muster? Eine Retraditionalisierungswelle?  

Vielleicht ein wenig. Doch hier geht es um mehr. Um Geld und Gefühle. Und um Sporteifer. Aber dazu später mehr. 

Um den Hype zu verstehen, kann man sich einfach das jüngste prominente Beispiel ansehen. Die beiden Influencer Mandy und Oskar veröffentlichten am Sonntagabend ihr Gender-Reveal-Video auf ihrem YouTube-Kanal „FitnessCouple“. Innerhalb von 24 Stunden sahen es 800.000 Menschen, das Video trendete in den YouTube-Charts. Darunter fast 3000 Kommentare.  

Der Hype um Gender Reveal Party's ist in Deutschland angekommen. Die beiden Influencer Mandy und Oskar veröffentlichten am Sonntagabend ihr Gender-Reveal-Video auf ihrem YouTube-Kanal „FitnessCouple“ ( Screenshot)
© Youtube/FintessCouple

Willkommene Aufmerksamkeit für Produkte

Auf Instagram nennt sie sich „healthy_mandy“, er heißt dort „fitnessoskar“. Ihr folgen 987.000 Menschen, ihm 499.000. Man trägt viel Beige, postet Schokoladen-Pancake-Berge und teilt Strand-Workouts für Paare. So weit, so gewöhnlich. Aber ein Gender-Reveal-Video postet man nicht einfach so. Die Tage davor werden zum Countdown, zur täglichen Erinnerung, dass bald das Geschlecht verraten wird! Das erzeugt Spannung. Und verschafft willkommene Aufmerksamkeit für alle Produkte, die man verkauft. Alles, um das Ereignis aufzubauschen, auf das man mit der „community“ hinfiebert.  

Im Video selbst sieht man einen riesigen, bis ins letzte Detail dekorierten Raum, Motto: Disney. Mit menschengroßem Pappaufsteller von Arielle der Meerjungfrau, mit Donald-Duck-Plüschtieren und Mickey-Mouse-Willkommenstafel. Wie beim Kindergeburtstag, nur teurer. Überall Luftballons: weiße, goldene und, klar, rosafarbene und hellblaue. Das Paar gibt seine „finale prediction“ ab, ob es Junge oder Mädchen werde. Auch alle Gäste, die kommen, müssen wetten. Eine Punktetafel zählt mit. Am Ende steht es 25:25. Männer wünschen sich einen Jungen, Frauen wünschen sich ein Mädchen, weil „girlpower!“ Jetzt ist man „Team Mädchen“ oder „Team Junge“. Als wäre es ein Fußballspiel.  

Dann der große Moment. Alle gehen raus, in den Schnee. Man trägt weiße Jacketts, cremefarbene Hosenanzüge. Das Paar steht vor einer weißen Wand, die wie ein Altar wirkt, darauf in Gold geschwungenen Buchstaben: „Mandy’s & Oskar’s gender reveal“. Alle heben eine Sprühflasche in den Himmel, auf der steht: „boy or girl?“ Ein letzter Kuss. Dann: „10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1, ahhhhh.“ Farbe schießt aus den Sprühflaschen. Hellblau! 

Schwangerschaft als Vermarktungswunder

Danach schneidet das Paar noch eine pinke, mehrstöckige Torte an – natürlich hat Oskar dabei die Hand oben. Wie sich das halt gehört. Hinter dem Paar liegen Berge an Geschenken. Die Männer hier finden es toll, dass es ein Junge wird, weil man mit ihm „boxen und Fußball spielen“ könne. Wie die anderen Gäste das Ergebnis finden? Alle sagen: „Es ist egal, was es wird. Hauptsache gesund.“ Die unwahrste Floskel der Stunde. Der Party-Anlass ist ja, dass es eben nicht egal ist, was es wird. Die private Geschlechterfrage wird zum öffentlichen Event, die Schwangerschaft zum Vermarktungswunder. 

Dramaturgisch ist es offensichtlich, warum diese Videos so beliebt sind. Es gibt einen klaren Höhepunkt, auf den alles zusteuert – die Enthüllung: Mädchen oder Junge? Simple 50/50-Chancen. Bis die Bombe platzt, zählt man gemeinsam runter: „10, 9, 8…!“ Als wäre Silvester. Alle können Tipps abgeben, was es nun wird, alle können mitfiebern. Gender Reveal-Videos sind wie Fußballwetten – aber mit zuckriger Hochzeitsästhetik. Hier darf man die Geschlechtertrennung noch ganz unschuldig bestaunen. Hier gibt es noch eine klare Ordnung. Hellblau oder rosa.  

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