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Debatte: Sensitivity Reading: Absurde Zensur oder zwingender Eingriff?

Stern 

Beim Sensitivity Reading werden Texte darauf geprüft, ob sie sich politisch korrekt ausdrücken. Expert:innen bieten deshalb ein Lektorat an, das die Verbreitung von rassistischen Ausdrücken und gefährlichen Stereotypen stoppen soll. Die Meinungen in der Buchbranche gehen dazu weit auseinander. 

Sensitivity Reading bezeichnet die gezielte Überprüfung von Büchern auf politisch korrekte Aussprache. Mit diesem sensiblen Lektorieren neuer Werke sollen rassistische Ausdrücke und gefährliche Stereotype vermieden werden. Das Ziel: Literatur soll so diskriminierungsfrei wie möglich gestaltet werden. Spezielle Agenturen bieten diese Form des Lektorats an, bei dem darauf geachtet wird, dass die lektorierende Person selbst Teil der Randgruppen ist, auf die sich die Sensibilitätslesung bezieht. Zum Beispiel: Schreibt ein Autor oder eine Autorin etwas über eine muslimische Person, kann eine muslimische Person über eine Agentur vermittelt und als Sensibilitätsleser:in engagiert werden. 

Booktok 18.55

Die Buchbranche, so scheint es, steht dem Thema Sensitivity Reading gespalten gegenüber. Während einige Verlage und Autor:innen bei fast jedem ihrer Werke auf Sensitivity Reader:innen zurückgreifen, lehnen andere das sensible Lektorieren ihrer Werke gänzlich ab. So hat sich zum Beispiel Schriftsteller und Bestseller-Autor Salman Rushdie auf Twitter äußerst kritisch zu Wort gemeldet, nachdem der Puffin-Verlag die Kinderbücher von Roald Dahl auf kritische Ausdrücke geprüft und dann einige Passagen abgeändert hatte. Der Puffin-Verlag erklärte im Februar 2023, dass davon Themen wie Gewicht, psychische Gesundheit, Gewalt, Gender und Hautfarbe betroffen seien. So wurden Wörter wie "fett" und "hässlich" aus den Werken komplett gestrichen. Änderungen, die vielen Kritiker:innen zu weit gehen.

Pro und Contra einer Sensibilitätslesung

Rushdie bezeichnete die Eingriffe als "absurde Zensur". Der Verlag solle sich schämen, die Bücher verändert zu haben, so der Autor. Viele Nutzer:innen stimmten zu. Auch Andreas Steinhöfel, der deutsche Übersetzer der Dahl-Texte, war Rushdies Meinung. Er ging noch einen Schritt weiter und bezeichnete die Änderung in den Dahl-Texten dem Deutschlandfunk zufolge als "Kunst- und Geschichtsverfälschung". Er sprach in dem Zusammenhang von Maßnahmen, die man so nur aus einem totalitären System kenne. 

Die Querelen rund um die Dahl-Werke sind jedoch nur ein Beispiel und Teil einer größeren Diskussion. Auch deutsche Verlage sehen sich immer wieder mit der Debatte rund um Sensitivity Reader:innen konfrontiert. Auf Anfrage des stern antwortet Simon Decot, Vorstand Programm beim Bastei Lübbe Verlag, dass die Zusammenarbeit mit Sensitivity Reader:innen für den Verlag ein wichtiges Werkzeug im Lektoratsprozess einiger Titel sei – besonders dann, wenn es darum gehe, Diversität abzubilden und unterschiedliche Personengruppen authentisch zu repräsentieren. "Mit ihrer Expertise unterstützen Sensitivity Reader:innen uns und unsere Autor:innen dabei, Vorurteile, Stigmatisierungen und Fehlinformationen zu vermeiden. Das bedeutet sowohl ein Überprüfen der Texte auf potenziell diskriminierende Inhalte als auch auf einen inklusiven Sprachgebrauch."

Ähnlich wie der Bastei Lübbe Verlag handhaben es inzwischen auch weitere Verlage, die sich mal mehr und mal weniger stark für die Nutzung von Sensibilitätsleser:innen einsetzen. Die Autorin Dr. Lisa Pychlau-Ezli findet diese Entwicklung gut. Sie hat Germanistik und Sportwissenschaften in Frankfurt studiert, in der germanistischen Mediävistik promoviert und arbeitet nun freiberuflich als Literaturkritikerin und im Verlagswesen. Sie hat das Buch "Wer darf in die Villa Kunterbunt?" veröffentlicht, in dem sie über den Umgang mit Rassismus in Kinderbüchern schreibt. Gegenüber dem stern sagt sie: "Kindermedien reproduzieren sehr oft Diskriminierungsformen wie Rassismus, Antisemitismus oder Sexismus und Lookismus." Genau da könne eine ausführliche Auseinandersetzung mit den kritischen Teilen diverser Klassiker helfen. "Viele Leute verbinden diesen Begriff mit Einschränkungen, Verboten oder Cancel Culture. Darum geht es aber gar nicht", sagt Dr. Pychlau. "Was hier manchmal als Extremform der politischen Korrektheit hingestellt wird, ist im Prinzip einfach nur eine Miteinbeziehung von Gruppen, die früher nicht gefragt wurden."

Auseinandersetzung mit Kinderbüchern

Die Literaturkritikerin plädiert für Aufklärung und frühe Auseinandersetzung mit unangenehmen Themen wie Rassismus, Antisemitismus und Sexismus. Deshalb betont sie gegenüber dem stern, wie wichtig Kinderbücher in dieser Debatte sind. Nur so kann man die "rassistische Sozialisation von Anfang an vermeiden". 

Um ihren Punkt deutlich zu machen, nennt sie ein konkretes Beispiel: In vielen Kinderbüchern sind schwarze, asiatische und muslimische Kinder wenig bis gar nicht repräsentiert. "Weiße deutsche Kinder lernen dadurch, dass nur sie "normal" und schwarze Kinder "anders" und nicht wirklich zugehörig sind." Gleichzeitig fehlt Kinder aus marginalisierten Gruppen die Möglichkeit, sich in solchen Büchern positiv repräsentiert zu sehen. "Diese Mechanismen laufen ganz subtil ab, so dass sie nicht auf den ersten Blick erkannt und reflektiert werden", erklärt Lisa Pychlau. Sie schlussfolgert daraus die Gefahr, dass Kinder durch die falsche Repräsentation in Kinderbüchern Rassismen verinnerlichen und dadurch unweigerlich in Zukunft selbst reproduzieren. Sie ist deshalb der Meinung, dass man reale Diskriminierung tatsächlich einschränken könnte, wenn man Texte für Kinder diskriminierungsfrei hielte. 

Sensitivity Reading nicht für jedes Buch geeignet 

Obwohl sie die kritische Auseinandersetzung mit stereotypischen Texten befürwortet, erklärt sie aber auch, dass ein Sensitivity Reading ihrer Ansicht nach nicht pauschal für jedes Buch durchgeführt werden sollte. Denn "jedes Buch ist einzigartig". Einfach nur problematische Stellen aus Texten zu entfernen sei in ihren Augen eine faule Lösung. 

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Für ein Extrembeispiel hat der Journalist Deniz Yücel Adolf Hitlers "Mein Kampf" herangezogen. Würde dieses Buch einem Sensitivity Reading unterzogen werden, könne man es ohne Antisemitismus lesen. Das, so Yücel, wäre allerdings sinnfrei und würde im Kontext des Buches nicht funktionieren. Fazit: Eine Sensibilitätslesung ist nicht für jeden Text geeignet. Um die richtigen Texte zu finden, stellt sich Lisa Pychlau deshalb immer zwei Fragen: "Wollen wir wirklich Rassismus oder Antisemitismus in Texten an Kinder weitergeben? Oder haben wir es mit einem Text zu tun, der von kundigen Erwachsenen in einen historischen Kontext eingeordnet werden kann?"

Der Puffin-Verlag erklärte nach der Kritik an den veränderten Roald-Dahl-Werken, die neuen Auflagen seien hauptsächlich für Kinder gedacht, die gerade erst anfangen, die Literatur für sich zu entdecken und die deshalb nicht mit solch kritischen Aussagen in Kontakt kommen sollten. Die Original-Versionen wolle der Verlag ebenso im Sortiment behalten. Das Publikum könne so selbst entscheiden, welche Version es kaufen und lesen möchte.

Quellen: "Süddeutsche Zeitung", "Welt", "Deutschlandfunk"

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