World News in German

"And Now Hanau": Berlin-Premiere zum vierten Jahrestag der rassistischen Morde rührt Publikum zu Tränen

Stern 

Vor fast vier Jahren, am 19. Februar 2020, ermordete ein Rechtsextremist in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven. Das Theaterstück "And Now Hanau" rekonstruiert die Tatnacht detailgetreu und prangert die Mehrheitsgesellschaft an. Eine Kritik. 

"Hier werden Entscheidungen getroffen". Es ist einer der ersten Sätze von Tuğsal Moğuls Theaterstück "And Now Hanau" und wohl auch der Grund für die ungewöhnliche Aufführungsstätte im Rathaus Schöneberg. Kritisches Theater direkt aus der Mitte der Stadtgesellschaft und dem ehemaligen Amtssitz des West-Berliner Bürgermeisters. 

Am 19. Februar 2020 ermordete ein rechtsextremer Attentäter neun Menschen: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Der Namen des Täters wird in Moğuls Inszenierung bewusst nicht erwähnt. Zehn Tage vor dem vierten Jahrestags des rassistischen Attentats liefert das Werk eine gefühlvolle und wütende Aufarbeitung der Taten. 

Der Theaterautor rekonstruiert mithilfe von vier Schauspielerinnen und Schauspielern die Nacht des rechtsextremen Mordanschlags. Das Theaterstück ist in Kooperation mit der Initiative 19. Februar Hanau entstanden. Die Beteiligten arbeiten kleinteilig und knallhart. Minutiös wird der Verlauf der 19. Februar 2020 nachgespielt. Viele der Angehörigen sitzen dabei in den ersten Reihen des Willy-Brandt-Saals.

Wer trägt Schuld am 19. Februar 2020?

Doch nicht nur die erschreckenden rassistischen Morde werden an diesem Freitagabend in Berlin-Schöneberg in Erinnerung gerufen sondern auch das Versagen von Polizei und Behörden in deren Aufarbeitung. "Sie werden hier nichts hören oder sehen, das sie nicht schon gehört oder gesehen haben", beginnt ein Monolog von Schauspieler Tim Weckenbrock. Umso fassungsloser macht, was die Inszenierung von Tuğsal Moğul in den folgenden 85 Minuten in Erinnerung ruft.

Der Tot von neun jungen Menschen hätte an vielen Stellen verhindert werden können. Was wäre geschehen wenn der Täter aufgrund seiner öffentlich präsentierten rechtsextremistischen Gesinnung und den 15 Zwangseinweisungen in psychiatrische Behandlungen keine Waffenerlaubnis erhalten hätte? Wenn er aufgrund seines auffälligen Verhaltens überwacht worden wäre? Wenn die Notrufe von Vili Viorel Păun beantwortet worden wären? Wenn der Notausgang in der Hanauer Arena-Bar nicht versperrt gewesen wäre? Wie kann es sein, dass 13 von 19 Einsatzkräften des SEKs am Tatort später eine Mitgliedschaft in rechtsextremen Chatgruppen nachgewiesen wurde? Wer trägt die Konsequenzen für diese folgenschweren Fehler?Cetin Gültekin12:05

Das Stück lässt aber auch Zuschauer wie mich nicht außen vor - also Angehörige der weißen Mehrheitsgesellschaft, die von Rassismus nicht betroffen sind. "Sie haben immer noch Angst vor Namen, die ihnen fremd sind. Sie haben keine Angst vor dem Täter. Sie haben Angst vor einer Pandemie, aber keine Angst vor Rechtsextremisten und Rechtsextremen bei der Polizei und in der Politik." So fragt Autor Moğul die Rezipienten gerade heraus, was sie gegen den eigenen Rassismus tun.  

"And Now Hanau": Kein Vergeben, kein Vergessen

"And Now Hanau" bringt den Zuschauern auch die Perspektive der Angehörigen näher. Ihre Hoffnung und Trauer in der Nacht des 19. Februar, ihre ungeklärten Fragen, ihre Verzweiflung über die Tatenlosigkeit der Polizei und nicht ausgesprochenen Entschuldigungen der Politik. Die Namen und Gesichter werden so zu Söhnen, Brüdern und Partnern.

Als die Familien einiger Opfer am Ende auf die Bühne treten, rollen nicht wenigen Menschen im ausverkauften Willy-Brandt-Saals des Rathaus Schöneberg Tränen über die Wangen. Bei den folgenden Standing Ovations zeigen sich auch die Angehörigen sichtlich emotional. Es scheint als hätten Tuğsal Moğul, Alaaeldin Dyab, Agnes Lampkin, Regina Leenders und Tim Weckenbrock etwas geschaffen, was die deutschen Behörden versäumt haben: Anteilnahme und Aufarbeitung.  

Ein klassisches Schauspiel ist das nicht. Das Behördenversagen vor, während und nach dem rechtsextremen Morden von Hanau wird vielmehr in einer eindrucksvollen Rechercheleistung detailliert und emotional sachlich dargelegt. Schockiert sind viele, doch überrascht ist an diesem Abend kaum jemand. Umso wichtiger scheint diese Inszenierung. 

Читайте на 123ru.net