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Prozess: Vorwurf des Totschlags: Hat ein Berliner Arzt die Grenzen der Sterbehilfe überschritten?

Stern 

Ein Arzt überließ einer psychisch kranken Frau tödliche Medikamente. Sie nahm sich das Leben. Nun muss sich der Arzt vor Gericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft sagt: Die Frau war nicht in der Lage, eine freie Entscheidung zu treffen

Christoph Turowski will sich nicht verstecken. Natürlich dürfe man ihn fotografieren, natürlich dürfe man seinen vollen Namen nennen. Ungewöhnlich für einen Angeklagten, dem die Staatsanwaltschaft vorwirft, einen Menschen getötet zu haben.

Turowski aber hat sich nichts vorzuwerfen. So sieht er das.

Die Staatsanwaltschaft hat den Arzt wegen Totschlags, versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung angeklagt. Er soll im Sommer 2021 in zwei Fällen einer 37-jährigen Frau, die schwer depressiv war, Medikamente zur Selbsttötung überlassen und sie bei ihrem Suizid begleitet haben. Ihm sei dabei bewusst gewesen, sagt die Staatsanwaltschaft, dass die Frau aufgrund ihrer Erkrankung nicht zu einer freien Willensbildung in der Lage gewesen sei. Mehr noch: Er habe die Frau sogar in ihrer Ansicht bestärkt, dass es für sie keine erfolgversprechenden Therapiemöglichkeiten mehr gebe.

Der Fall könnte, soviel lässt sich schon jetzt sagen, zu einem Präzedenzurteil auf höchster Ebene führen. Weil mit ihm Fragen verhandelt werden, die moralische und ethische Grundfesten berühren. Und weil zu entscheiden sein wird, wie viel freier Wille einem Menschen mit einer schweren psychischen Erkrankung zugestanden werden kann.

Überzeugt von dem, was er tut

Christoph Turowski ist 74 Jahre alt und seit 1977 Arzt. Zunächst arbeitete er als Internist in einem Krankenhaus, 1986 übernahm er eine Praxis in Berlin-Steglitz und führte sie knapp 30 Jahre als Hausarzt. Keine "Fünf-Minuten-Praxis", betont er, er habe sich stets Zeit genommen für seine Patienten.

Seit er die Praxis abgegeben hat, betätigt sich Turowski als Sterbehelfer. Er schätzt, dass er seither rund 100 Menschen in den Tod begleitet hat. Die meisten seien ihm von der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben vermittelt worden. Tumorpatienten im fortgeschrittenen Stadium seien ebenso darunter gewesen wie Patienten mit multipler Sklerose oder alte Menschen, die Angst vor der Pflegebedürftigkeit hätten.

Turowski ist überzeugt von dem, was er tut, er sieht es als seine ärztliche und moralische Pflicht. "Das Heil des Kranken ist oberstes Gebot", sagt er vor Gericht. "Wenn der Mensch nur noch am Leben leidet und es als Qual empfindet, liegt das Heil in der Erlösung durch einen friedlichen Tod."

Arzt schon zuvor angeklagt

Es ist nicht das erste Mal, dass Christoph Turowski vor Gericht steht. Im Jahr 2018 musste er sich schon einmal vor dem Landgericht Berlin verantworten. Er hatte einer Frau, die seit 28 Jahren wegen eines Reizdarmsyndroms unter starken Schmerzen litt, ein tödliches Medikament zur Verfügung gestellt. Zuvor habe sie gedroht, sich auf eigene Faust das Leben zu nehmen.

Das Landgericht Berlin sprach Turowski frei. In der Urteilsbegründung hieß es damals, der Wille zum Sterben sei zu respektieren. Später wurde das Urteil vom Bundesgerichtshof bestätigt. 

Dass die Staatsanwaltschaft ihn nun erneut angeklagt hat, liegt vor allem daran, dass die 37-Jährige nicht unter körperlichen, sondern psychischen Problemen litt – und womöglich in einer schweren depressiven Episode keinen anderen Ausweg sah.

Turowski ist davon überzeugt, dass er auch dieses Mal zu Unrecht auf der Anklagebank sitzt.

Wie sind die Geschehnisse einzuordnen?

Die Anbahnung des Suizids ist gut dokumentiert. Es gibt Chatnachrichten zwischen Turowski und der Frau, auch Videoaufnahmen vom Suizid werden wohl noch vor Gericht gezeigt. Es dürfte weitestgehend Einigkeit darüber bestehen, was genau geschehen ist. Am Ende wird es also darum gehen, wie diese Geschehnisse rechtlich einzuordnen sind. 

Berichterstattung Suizide stern

Der Arzt äußert sich vor dem Landgericht Berlin umfassend zu den Vorwürfen. Am 12. Juni 2021 habe die Frau Kontakt zu ihm aufgenommen, sagt er, drei Tage später habe er sie in ihrer Wohnung besucht. Die Frau habe ihm erzählt, dass sie seit nunmehr 16 Jahren an Depressionen leide. Sie nehme durchgängig Medikamente, mache Therapie. Dreimal sei sie auch stationär in einer Psychiatrie gewesen, doch nichts habe wirklich geholfen. Im Alter von 21 Jahren sei die Krankheit ausgebrochen, ein Jahr später habe sie den ersten Suizidversuch unternommen. Später folgte ein zweiter. 

"Die große seelische Not war sehr deutlich", sagt Turowski. Die Frau habe ihm "sehr überzeugend und glaubhaft" berichtet, dass sie seit mindestens vier Monaten nur noch daran denke, wie sie sich selbst töten könne. 

"Es gab den eindeutigen Willen zur Lebensbeendigung, zur Not durch einen grausamen Gewaltsuizid", sagt Turowski. Er habe keine Zweifel an ihrer Urteils- und Entscheidungsfähigkeit gehabt. "Ich konnte dieser Frau das Grundrecht eines selbstbestimmten Todes nicht verweigern."

Am 24. Juni, zwölf Tage nach der ersten Kontaktaufnahme, fuhr Christoph Turowski zu der Frau und händigte ihr die tödlichen Medikamente aus. Sie habe sie genommen und sich dann schlafen gelegt. Turowski blieb bei ihr. Doch die Frau erbrach sich und überlebte. Sie wurde für vier Wochen in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen.

Am 12. Juli, dem Tag ihrer Entlassung, buchte die Frau ein Hotelzimmer. Turowski fuhr zu ihr, dieses Mal hatte er eine Infusion mit einem Narkosemittel dabei. Zunächst habe die Frau eine "Freitoderklärung" unterschrieben, dann legte Turowski den Zugang. Die Frau habe das Rädchen der Infusion dann selbst geöffnet.

Der Arzt rief die Kriminalpolizei

Nach einer Minute, erzählt Turowski, sei sie eingeschlafen. Acht Minuten später sei sie "sehr ruhig, friedlich und menschenwürdig gestorben".

Turowski rief die Kriminalpolizei, erklärte den Beamten die Situation und übergab die Dokumente. Dann fuhr er nachhause.

Der Vorsitzende Richter befragt Turowski zu seiner Erfahrung im psychiatrischen Bereich, er will wissen, wie er die Diagnosen bei einer Depression vornehme, in welchen Fällen er Psychopharmaka verschreibe. Der Unterton: Sie sind als Internist doch gar kein Experte auf diesem Gebiet. 

"Die Psychiater sind auch nicht die Götter in Weiß", entgegnet Turowski. "Die können den Menschen auch nicht ins Gehirn gucken."

Die große Frage, die über diesem Prozess schwebt, lautet auch, ob die Sterbehilfe es suizidwilligen Patienten zu einfach macht. Ob sie ihnen einen vermeintlich verlockenden Ausweg aus einer Krise bietet. Einmal soll die Frau einer Freundin geschrieben haben: "Wenn es den Turowski nicht gäbe, müsste ich ja am Leben bleiben, denn sonst müsste ich mich vor einen Zug schmeißen, das traue ich mich nicht."

Zweifel an der Entscheidung

Bereits am ersten Verhandlungstag wurde deutlich, dass die Frau zuweilen ambivalente Gefühle zu ihrem Suizid hatte. Zwei Tage vor ihrem Tod schrieb sie, dass sie doch am Leben bleiben und den geplanten Termin für den Suizid deshalb absagen wolle. Dann aber wollte sie doch wieder sterben. So ging es hin und her. Noch am Morgen ihres Todes schrieb die Frau Nachrichten an Turowski, in denen sie Zweifel am geplanten Suizid äußert, um ihn Minuten später wieder zu bejahen.

"Die Dame kämpfte mit sich", stellt der Vorsitzende Richter fest. "Sind Ihnen da nicht Bedenken gekommen?"

"Es liegt in unserer Natur, dass wir jede Entscheidung abwägen", sagt Turowski. Er habe ausgerechnet, dass sich die Frau in 95 Prozent der vielen Nachrichten an ihn für einen Suizid aussprach und nur in fünf Prozent dagegen. Außerdem habe sie ihm an jenem Tag auch geschrieben, dass es dieses Mal unbedingt klappen müsse. Zur Not solle er nachhelfen. Und er müsse unbedingt so lange warten, bis eine Reanimation unmöglich ist. 

Für Christoph Turowski spricht aus der Anklage der Staatsanwaltschaft eine Diskriminierung psychisch kranker Menschen. Er sagt: "Sie hatte genauso das Recht, ihr Leben zu beenden wie jeder körperlich Kranke."

Am Ende will der Vorsitzende Richter wissen, ob Turowski heute, mit etwas Abstand, wieder so handeln würde. Ob er sich jetzt, wo er die ganze Akte kenne, anders entscheiden würde. Ob er der Frau vielleicht sagen würde, wir warten mal lieber noch ein, zwei Monate.

Turowski sagt, man lerne ja aus seinen Fehlern. Er würde sich heute rechtlich besser absichern.

Der Prozess wird fortgesetzt.Suizid-Disclaimer

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