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Julia Nawalnaja: Sie war die Frau an der Seite von Kremlkritiker Nawalny – jetzt will sie an seine Stelle treten

Stern 

Julia Nawalnaja wollte nie in die Politik. Doch nach dem Tod ihres Mannes, dem Kremlkritiker Alexej Nawalny, nimmt sie den Kampf um sein Vermächtnis auf.

"Eigentlich sollte ich nicht hier sein, eigentlich sollte jemand anderes hier sitzen." So beginnt Julia Nawalnaja ein neunminütiges Video, das in Wahrheit eine Kampfansage ist. Sie meint ihren Mann Alexej Nawalny. In seine Fußstapfen will, muss sie vielleicht nun treten.

Der berühmteste Oppositionspolitiker Russlands war am Freitag in einer russischen Strafkolonie hinter dem Polarkreis verstorben. Nawalnaja macht für diesen Tod den Kremlchef persönlich verantwortlich, Wladimir Putin.

Nawalnaja wollte nicht selbst in die Politik gehen, das betonte sie immer wieder. Diese Entscheidung scheint sie mit dem Tod ihres Mannes überdacht zu haben. Putin habe ihr den liebsten und wertvollsten Menschen genommen, die Hälfte ihrer Seele und ihres Herzens, sagt Nawalnaja in dem Video. Doch sie wolle sein Werk fortsetzen.

Gestaltet ist die Botschaft auf Nawalny-Art, unterlegt mit emotionaler Musik. Bilder der Familie werden eingeblendet, aus glücklicheren Zeiten, als alle vier noch vereint waren. Gemeinsam hat das Paar zwei Kinder. In nur 24 Stunden sahen rund fünf Millionen Menschen das Video allein bei X, vormals Twitter.NACHRUF NAWALNYJ STERN PAID

Familienmotto: Nicht aufgeben 

1998 lernten sich die beiden im Urlaub kennen, zwei Jahre darauf folgte die Heirat, später zwei Kinder. Nawalny verfolgte seinen Weg in die Politik – die studierte Wirtschaftswissenschaftlerin kümmerte sich meist im Hintergrund um die beiden Kinder, Daria und Zakhar. Dass Nawalnaja ausgerechnet jetzt den Weg in die Politik sucht, passt zu der Hartnäckigkeit, die sie immer wieder demonstriert hat.

Mehrfach wurde Nawalny vergiftet und in Haft gesteckt, trotzdem begleitete sie ihn zu Protestveranstaltungen. Schon nach Nawalnys erster Verhaftung 2013, so berichtet es das Magazin "Politico", sagte sie kämpferisch: "Diese Bastarde werden niemals unsere Tränen sehen." Sie unterstützte auch seinen Versuch, für die Präsidentschaftswahlen 2018 zu kandidieren. Ihr war es 2020 zu verdanken, dass Nawalny nach der Vergiftung mit dem Nervengift Nowitschok aus Russland ausgeflogen und in Deutschland behandelt werden konnte.

Als sie am Freitag auf der Münchner Sicherheitskonferenz vom Tod ihres Mannes erfuhr, trat sie Stunden später kurz vor die Presse. Die Begründung: Sie sei sicher, Alexej hätte das Gleiche getan. Mit bebender Stimme forderte sie vor der Weltöffentlichkeit, dass Putin und seine Regierung für den Umgang mit ihrem Mann zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Ein Auftritt, den manche ihr im Nachhinein als Inszenierung auslegen, der jedoch zu anderen Ansprachen passt.Nawalnys Witwe kündigt Kampf gegen Putin an14:36

Dabei demonstriert sie eine Stärke, die dem Familienmotto zu folgen scheint: Nicht aufgeben. In dem am Montag veröffentlichten Video sagt sie, sie habe kein Recht aufzugeben. Nawalny selbst nutzte 2021 fast die gleichen Worte. In dem oscarprämierten CNN-Film "Nawalny" hatte er einen Appell an die russische Bevölkerung aufgenommen – für den Fall, dass er ermordet wird. "Meine Botschaft ist ganz einfach: Gebt nicht auf", sagt Nawalny darin. Für den Triumph des Bösen brauche es nichts weiter, als dass die Guten untätig bleiben: "Also seid nicht passiv."

Ihr Kampf für Alexej Nawalny

Nawalny kehrte nach seiner Vergiftung im Januar 2021 nach Russland zurück. Dort wurde er noch vor der Passkontrolle am Flughafen verhaftet. Danach kämpfte Nawalnaja gegen das Vergessen – keine einfache Aufgabe angesichts der vielfältigen Krisen seitdem. Sie führt diesen Kampf, indem sie Politikerinnen und Politiker trifft, seltene Interviews gibt, aber auch durch private Posts in sozialen Netzwerken. Öffentliche Liebesschwüre der beiden erinnern daran, dass der Kremlkritiker eine private, menschliche Seite hat. Damit inszeniert er sich bewusst anders als Putin.

"Du bist ein Held", schreibt sie unter gemeinsame Bilder auf Instagram. Er wiederum macht sie dafür verantwortlich, dass er nach der Nowitschok-Vergiftung überhaupt wieder gesund wurde. "Julia, du hast mich gerettet", schreibt er nach seiner Genesung bei Instagram. Auch sein letzter Post am Valentinstag ist eine Liebeserklärung an seine Frau.

Die beiden hätten eine Art "telepathische Verbindung" gehabt, beschreibt eine US-Mitarbeiterin von Nawalnys Anti-Korruptions-Stiftung die Beziehung des Paares. "Sie mussten manchmal nicht einmal miteinander sprechen, sie dachten gleich", sagte Anna Veduta zu "Politico". Nawalnaja teile die politischen Einstellungen des Oppositionellen, habe diese entscheidend geprägt. 

FS Nawalny Leben in Bildern   14.00

Wofür Nawalny persönlich stand, kommt wohl auf die Zeitspanne an, die betrachtet wird. Einige stuften ihn als Nationalisten ein, weil er einige Male an russischen Märschen teilgenommen hatte, bei denen auch Rechtsextreme anwesend waren. Davon distanzierte er sich nie öffentlich. Den Anfang seiner politischen Karriere machte er in den 2000er-Jahren dagegen bei der liberalen Jabloko-Partei. In den vergangenen zehn Jahren rückte er vor allem das Thema Korruption in den Mittelpunkt. Damit mobilisierte er zeitweise Massen in Russland.

Doch die öffentliche Putin-Kritik von Alexej Nawalny wirkte sich auf das Familienleben aus. Die Familie wurde beschattet, erzählte das Ehepaar 2021 einem russischen Journalisten, Bankkonten wurden eingefroren, Razzien in ihrem Zuhause durchgeführt. Laut dem Recherchenetzwerk "Bellingcat" hat Nawalnaja selbst einmal Vergiftungssymptome gezeigt. Doch einen Rückzug scheint sie sich nicht zu erlauben. Im gleichen Interview sagt sie: "Wenn ich zusammenbreche, werden alle zusammenbrechen."

Mut reicht manchmal nicht. Nach russischen Behördenangaben soll Alexej Nawalny am Freitag beim Hofgang zusammengebrochen sein. Wiederbelebungsversuche, die offenbar unternommen wurden, sollen zwecklos gewesen sein. In den drei Haftjahren hatte Nawalnys Team den Behörden mehrfach Folter, Essensentzug und Quälerei vorgeworfen. Anders als ihr Mann befindet sich Julia Nawalnaja aber nicht in Russland – und damit nicht in den Händen des Kremls.

Quellen:  Instagram Julia Nawalnaja, "CNN", "Politico", Youtube, Bellingcat, "Spiegel", mit Informationen der Nachrichtenagenturen

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