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Spektakuläre Flucht: Was die "RAF-Rentner" für Deutschland sind, ist Tibor Foco für Österreich: Die Geschichte von "Austrias Most Wanted"

Stern 
Spektakuläre Flucht: Was die

Mit Ex-RAF-Terroristen Daniela Klette ging der Polizei eine der meistgesuchten Personen Deutschlands ins Netz. Österreichs "Most Wanted" ist dagegen weiterhin seit fast 30 Jahren auf der Flucht: Tibor Foco.

Linz in Oberösterreich am 14. März 1986: Neben den Gleisen der Westbahn zwischen Wien und St. Pölten, am St. Barbara Fiedhof, der riesigen Ruhestätte inmitten der Stadt, wird morgens eine Frauenleiche gefunden. Die Kriminalpolizei rückt an, die Presse, Schaulustige sind vor Ort. Jemand hat die Frau "ermordet durch einen Schuss in das Gesicht, unterhalb ihres linken Auges", vermerken die Ermittler in ihren Unterlagen. Daneben weist der Körper zahlreiche Wunden, Prellungen und Knochenbrüche auf. Der Täter muss mit äußerst großer Brutalität vorgegangen sein. Das Opfer war zudem im Bereich des Unterleibs entkleidet, "um die Tat sexuell motiviert erscheinen zu lassen", so die Polizei.

Schnell bekommt sie heraus, dass es sich bei der Ermordeten um die Sexarbeiterin Elfriede H. handelt – sie ging ihrer Tätigkeit zuletzt in einem Bordell in der Linzer Goethestraße, ganz in der Nähe des Fundorts, nach. Was die Ermittler seinerzeit noch nicht wissen: Was zunächst wie ein Routinefall aussieht, wird sie auch noch fast 40 Jahre später noch beschäftigen.

Ist Tibor Foco schuldig?

Nur einen Tag nach dem Fund des Leichnams können Kriminalbeamte einen Verdächtigen verhaften: den damals 29-jährigen Tibor Foco, durchtrainiert, intelligent, diszipliniert, früherer Motorradchampion. Er betreibt nach Überzeugung der Ermittler das "Bunny", eine Rotlichtbar, in der auch mehrere Frauen anschaffen sollen. Die Adresse: Goethestraße 51, Linz. Wollte Foco eine Konkurrentin um die Freier aus dem Weg räumen?

Tibor Foco
Tibor Foco gilt als trainiert
© Bundeskriminalamt Österreich

Der Beschuldigte bestreitet nach seiner Verhaftung, etwas mit Mord zu tun zu haben. Gestützt werden seine Angaben durch ein Alibi seiner damaligen Ehefrau, das sie später zurückziehen wird. Eva Foco wird einige Jahre danach einen Kripobeamten heiraten, der maßgeblich in die Ermittlungen zu dem Fall involviert war.

Mit Foco zusammen wurde auch die 22-jährige Regina U. festgenommen, die im "Bunny" gearbeitet haben und gleichzeitig die Geliebte ihres Zuhälters Foco gewesen sein soll – "mein Meister" habe sie ihn genannt, erzählt man sich. Und auch sie bestreitet im März 1986 zunächst jede Verwicklung in den Mord an Elfriede H., die man im Milieu als Elfi kennt. Später ändert Regina U. ihre Darstellung, sie tischt den Ermittlern immer neue Versionen auf, eine davon: Sie sei von ihrem "Meister" zum tödlichen Schuss auf Elfriede H. gezwungen worden. Und sie beschuldigt einen weiteren Mittäter, Peter L., einen guten Bekannten von Tibor Foco. Doch auch er bestreitet nach seiner Verhaftung jede Tatbeteiligung. Die ersten Vernehmungen sind der Beginn eines Justizkrimis, wie ihn Österreich lange nicht erlebt hat.

Folter durch die Polizei?

Trotz aller Widersprüche, Zweifel und unterschiedlicher Versionen beginnt knapp ein Jahr nach dem Mord an der Prostituierten der Prozess vor dem Linzer Landgericht. Fast 80 Zeugen werden geladen, 20 Verhandlungstage ziehen ins Land, fünf Sachverständige werden gehört, notieren Reporter der "Oberösterreichischen Nachrichten". Am Ende glaubt das Geschworenengericht der Version von Regina U. und verurteilt Foco zu lebenslanger Haft wegen Mordes, L. muss wegen seiner Komplizenschaft für 18 Jahre hinter Gitter. Regina U. dagegen wird als Kronzeugin freigesprochen – wegen "entschuldigten Notstands", wie es im Juristendeutsch heißt.

Der Mordfall von Linz scheint mit dem Urteilsspruch abgeschlossen – tatsächlich beginnt er aber erst jetzt so richtig. Sowohl Foco als auch L. bestreiten auch nach dem Richterspruch vehement, etwas mit dem Mord an der Prostituierten zu tun zu haben. Es sei DNA eines Unbekannten an der Leiche gefunden worden, das ist nur eines ihrer Argumente. Unentwegt kämpfen sie aus dem Gefängnis für ihre Freilassung, mit Erfolg: 1992 erreicht L. die Wiederaufnahme seines Verfahrens, er wird 1996 freigesprochen und erhält umgerechnet rund 230.000 Euro als Entschädigung zugesprochen für die Jahre, in denen man ihm die Freiheit nahm. Der Grund für die Freilassung: Regina U., die Kronzeugin, hatte ihre Aussage von 1986 zurückgezogen, weil sie dabei von der Linzer Polizei gefoltert worden sein will – das streitet die Behörde ab. Beweise gibt es bis heute nicht.

Auch Foco strengt weiter die Neuauflage seines Prozesses an – doch offensichtlich verlässt ihn vorher die Geduld. Er plant seine Flucht aus dem Gefängnis in Stein an der Donau, offensichtlich über mehrere Jahre hinweg. Aus der Haftanstalt heraus baut er sich ein ganzes Netzwerk von Fluchthelfern auf, ist die Polizei überzeugt, und er schmiedet seinen Plan.

Der ORF besuchte Foco in seiner Zelle

Schon kurz nach seiner Inhaftierung beginnt Foco, Briefe nach draußen zu schreiben – vorwiegend an Frauen. Einigen soll er sogar die Verlobung in Aussicht stellen, so die Ermittler. Sie sagen auch, dass Foco immer wieder versuche, "Frauen zu unterwerfen". 

Die Kommunikation mit der Welt außerhalb der Gefängnismauern wird ab 1993 deutlich einfacher. Focos Komplizen gelingt es, Handys in die Haftanstalt zu schmuggeln, fortan wird es noch leichter für ihn, Anweisungen für die Flucht an sein Helfernetz weiterzugeben. So besorgen sie ihm ein Motorrad, eine Kawasaki ZX 750 F "Ninja", für das in der Nähe der Linzer Uniklinik eine Garage angemietet wird – der Ort ist nicht zufällig gewählt.

Während der Haftzeit wird Foco genehmigt, Jura an der Universität Linz zu studieren, nach eigener Darstellung mit dem Ziel, seinen Freispruch zu erkämpfen. Er stellt immer wieder Anträge, das Verfahren neu aufzurollen. Doch die Polizei glaubt inzwischen: Auch das Studium ist von Anfang an Teil seines Fluchtplans.

Tibor Foco floh mit einem Kawasaki-Motorrad
Tibor Foco floh mit einem Kawasaki-Motorrad vom Typ ZX 750 F "Ninja", Fahrgestellnummer ZX750F017290. Es wurde bis heute nicht gefunden
© Bundeskriminalamt Österreich
Wie so oft sucht der verurteilte Mörder auch am 27. April 1995 in Begleitung von zwei Justizbeamten die Uni in Linz auf. An diesem Donnerstag will er seinen filmreifen Fluchtplan in die Tat umsetzen. Unter dem Vorwand in einem Hörsaal etwas nachsehen zu wollen, bringt er sich aus dem Blickfeld seiner Bewacher, verschwindet im Getümmel der Hochschule. Er greift sich in einem anderem Raum von einer Fluchthelferin bereitgelegtes Tränengasspray und den Schlüssel zur Garage mit der schwarzen Kawasaki. In weniger als acht Minuten läuft er dorthin, als er es erreicht, zieht er sich die von seinen Helfern beschaffte Bikerkluft an, steigt auf, wirft den Motor an und fährt in Richtung Westen davon. 

Die sofort gestartete Großfahndung bleibt erfolglos. Mehrere Fluchthelfer werden später zu Geld- und Bewährungsstrafen verurteilt. Bis heute fehlt von Foco jede Spur.

Doch es gibt auch Menschen, die nach der Flucht mit Foco in Kontakt stehen, zum Beispiel seine Eltern, sein Anwalt oder Journalisten. Ihnen gegenüber beteuert Foco wieder und wieder seine Unschuld.

Und tatsächlich: Im Frühjahr 1997 hebt ein Gericht in Focos Abwesenheit die lebenslange Haft auf. Der internationale Haftbefehl wird zurückgezogen, Foco bei einer Rückkehr freies Geleit zugesagt. Doch er lässt sich nicht darauf ein und bleibt untergetaucht.

Drei Jahre später die nächste Kehrtwende: Foco wird erneut angeklagt wegen des Verdachts des Mordes an Elfriede H. "Am Vorwurf hat sich letztlich nichts verändert", sagt Philip Christl von der Linzer Staatsanwaltschaft dem ORF. Ein neuer internationaler Haftbefehl wird ausgestellt, die Fahndung wieder aufgenommen – erfolglos.

Freies Geleit zugesichert

Nur wenn der Angeklagte vor Gericht erscheint, kann das Verfahren um den Mord an der Prostituierten wieder aufgenommen werden. Vielleicht deshalb, vielleicht aber auch, weil Focos Eltern mit der österreichischen Justizministerin verhandeln, gibt es 2005 ein neues Angebot: Bis zum Abschluss eines neuen Verfahrens würde Foco nicht in U-Haft genommen werden – wieder freies Geleit. Doch wieder geht Foco nicht darauf ein. Die – zumindest vorübergehende – Freiheit ihres Sohnes ist seinen Eltern nicht genug: Sie wollen die Einstellung des Verfahrens erreichen und lehnen das Angebot der Justiz ab. In den Medien bezweifeln sie die Offerte öffentlich. "Ich halte das Ganze für einen ausgemachten Blödsinn. Unser Tibor hat überhaupt keinen Grund, nach Österreich zurückzukehren", sagt seine Mutter 2008 der österreichischen Zeitung "Der Standard"

Auch Foco selbst erklärt über seinen Anwalt, dass er nicht daran denke, zurück nach Österreich zu kommen. Er glaube nicht an ein faires Verfahren – nicht nach all dem, was in vergangenen Jahren so herauskam an Ungereimtheiten, Irrtümern und Pannen bei Justiz und Polizei in Linz.

Wo Foco sich aufhält, weiß fast niemand. Und wer es doch weiß, sagt es nicht. Es gibt Gerüchte, dass er sich in die Vereinigten Staaten abgesetzt hat, aber auch Ungarn oder eine Pazifikinsel werden als mögliche Aufenthaltsorte genannt – doch es sind nur Gerüchte. Seit fast 30 Jahren ist unbekannt, wo er sich aufhält.

Tibor Foco
Tibor Foco 1986 (rechts oben) und drei Varianten seines möglichen Aussehens heute
© Bundeskriminalamt Österreich
Es gibt nicht wenige in Österreich, die Foco als Opfer in einem handfesten Justizskandal sehen. Die Staatsanwaltschaft wiederum ist von der Schuld Focos überzeugt und möchte den heute 62-Jährigen vor Gericht sehen. Mit immensem Aufwand fahnden die Ermittlungsbehörden nach ihm, die europäische Polizeibehörde Europol erklärt ihn zu den meist gesuchten Verdächtigen des Kontinents, Zielfahnder sollen auf ihn angesetzt sein. Sie tappen bisher im Dunkeln. Ein Problem bei der Suche: Niemand weiß, wie Tibor Foco heute aussieht. Spezialisten des österreichischen Bundeskriminalamtes ließen ihn auf einem Bild von 1986 nachaltern. Wie realistisch das Erscheinungsbild ist? Das weiß keiner.

Auch fast 40 Jahre nach der Tat wartet der Mord an der Prostituierten Elfriede H. weiter auf Aufklärung. Ohne den Verdächtigen keine Neuauflage des Prozesses – das weiß auch Foco. Genauso wie nur er im Moment weiß, ob er schuldig ist oder nicht. Eines ist Tibor Foco in jedem Fall: Der meist gesuchte Mann Österreichs, das bekannteste Phantom des Landes.

Beschreibung

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel erschien erstmals 2018 und wurde aktualisiert.

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