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Sexuelle Belästigung im Europaparlament: "Der Aufzug ist leider ein sehr typischer Ort für Belästigung"

Stern 
Sexuelle Belästigung im Europaparlament:

Die Niederländerin Myrthe Bovendeaard hat vier Jahre lang im Europäischen Parlament gearbeitet. Heute betreut sie Betroffene von sexueller und psychologischer Belästigung und sagt: "Das Europaparlament ist kein sicherer Ort für Frauen."

Frau Bovendeaard, die Initiative MeTooEP dokumentiert sexistische Übergriffe und Mobbing im Europaparlament in Brüssel. Eine Frau schildert ihre Erlebnisse mit einem Parlamentarier so: "Der Tag, an dem er mich fragte, ob ich mit ihm ausgehe und dann vor meinen Augen hinter seinem Schreibtisch masturbierte". Wie verbreitet sind solche Vorkommnisse in Brüssel?
Die Initiative MeTooEP hat im vergangenen Jahr eine Umfrage über Belästigung im Parlament durchgeführt. Da gaben 16 Prozent der Befragten an, im Europäischen Parlament sexuell belästigt worden zu sein. Das ist fast eine von fünf Personen. Zudem gaben fünfzig Prozent an, Mobbing erlitten zu haben. Diese Zahlen sind schockierend.

Wo beginnt grenzüberschreitendes Verhalten – und welche Kriterien legen Sie dafür an?
Die Beschuldigten sind meist Abgeordnete oder die Vorgesetzten der Betroffenen. Das fängt schon damit an, dass jemand sexistische Witze macht. Das mag nicht jeder als sexuelle Belästigung einstufen. Aber es handelt sich um sexuelle Belästigung. Und niemand wird dafür zur Rechenschaft gezogen, besonders die Abgeordneten nicht. Dabei schaffen diese Verhaltensweisen ein feindliches Umfeld für Frauen. Die Folge ist: Die Mitarbeiter des Parlamentes normalisieren toxisches Verhalten, weil es so weitverbreitet ist und weil sie ihren Job behalten wollen. Sie müssen es also in gewisser Weise aushalten. 

Sie waren selbst Teil des Politkosmos Brüssel. Haben Sie sexuelle Belästigung erlebt?
Ich habe vier Jahre lang für die Grünen gearbeitet, zunächst als parlamentarische Assistentin und dann als politische Beraterin. Von Anfang an fühlte ich mich im Parlament immer sehr beobachtet. Ich habe ein ziemlich großes Dekolleté, was ich mag, aber viele Männer starrten ständig auf meine Brust, bei Sitzungen oder auf dem Flur. Im Parlament ist die Praxis des ‚bodyscanning' von Frauen sehr verbreitet. Es ist kein sicherer Ort für Frauen. Ich habe angefangen, Kleidung zu tragen, die mein Dekolleté bedeckt.

Was macht Institutionen wie das Europaparlament besonders problematisch?
Grenzüberschreitendes Verhalten findet überall in unserer Gesellschaft statt, vor allem dort, wo es starke Machtgefälle und klare Hierarchien gibt. Das ist im Europäischen Parlament der Fall, ganz gleich um welche Partei es sich handelt. Das Parlament hat eine immense politische Macht und diese Macht gehört den Abgeordneten. Sie verfügen über ein großes Budget und können es frei verwalten. Sie sind für ein ganzes Team von Mitarbeitern verantwortlich. Der Job der parlamentarischen Assistenten ist prekär. Der Abgeordnete hat die volle Macht über sie und kann sie jeden Moment entlassen. Sie müssen alles tun, was ihr Abgeordneter von ihnen verlangt. Zur Not, indem sie über manche Dinge nicht sprechen.

Nun berichtet der stern, dass es in der Fraktion der Grünen sexuelle Belästigung durch einen Abgeordneten gegeben haben und die Partei die Frauen nicht ausreichend geschützt haben soll. Einer Partei, die sich öffentlich für die Rechte von Frauen und gegen Übergriffigkeit stark macht wie keine andere. Der Abgeordnete ist nun zurückgetreten. Sind Sie überrascht?
Gerade bei den Grünen gibt es aber diese Vorstellung, dass alle Teil einer großen grünen Familie sind und dass man gemeinsam stärker ist. Alle stehen sich nahe, sowohl menschlich als ideologisch. Ich finde es problematisch, eine Partei als Familie zu bezeichnen. Wir sind keine Familie und wenn man dies von oben herab propagiert, dann entsteht der Eindruck, dass jeder der Familie gegenüber loyal sein muss. Dass man die Familie schützen muss. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass die Fraktion grenzüberschreitendem Verhalten aktiv vorgebeugt hat. Die Partys dauerten immer bis spät in die Nacht, es gab immer eine "Open Bar“, es gab keine wirkliche Aufsicht über sexuelle Belästigung.

STERN PAID MeToo Heft19:59

Kommt grenzüberschreitendes Verhalten in allen Parteien vor?
Mir sind aus allen Fraktionen und auch aus der Verwaltung Fälle von Mobbing und sexueller Belästigung bekannt. Im Parlament ist niemand immun, das liegt an der Machtdynamik. Dennoch ist mir aufgefallen, dass es mehr Fälle bei den Sozialdemokraten, den Grünen und den Linken gibt. Das hat mich überrascht. Eine Erklärung könnte sein, dass die Menschen auf der linken Seite des politischen Spektrums im Allgemeinen besser wissen, was Belästigung eigentlich ist. Sie sind vielleicht eher bereit, Vorfälle zu melden, weil sie Werte wie Chancengleichheit, Rechenschaftspflicht und Gerechtigkeit vertreten.

"Der Aufzug ist leider ein sehr typischer Ort für Belästigung"

Gibt es Orte oder Situationen, die eine Frau im Parlament meiden sollte?
Ich selbst machte eine Erfahrung im Aufzug, leider ein sehr typischer Ort für Belästigung. Damals waren nur ich und ein älterer Mann im Aufzug. Plötzlich kam er auf mich zu und stellte sich ganz dicht neben mich. Mir fiel auf, dass er einen Abgeordneten-Ausweis trug. Ich fragte ihn, was er da mache. Er antwortete: 'Nichts, ich stehe nur hier'. Ich sagte ihm, dass ich es nicht gut fände, dass er so nah bei mir stehe. Er erwiderte, man könne heutzutage ja wirklich nichts mehr tun. Damals hatte das Parlament zwar ein Beschwerdeverfahren gegen Abgeordnete, aber es war unmöglich, Informationen über die Prozedur zu erhalten. Niemand hat die Mitarbeitenden überhaupt darüber informiert, dass es diese Prozedur gibt. Außerdem war meine Erfahrung vergleichsweise harmlos: Der Abgeordnete hat mich nicht angefasst oder geküsst, er kam mir nur unangenehm nahe.

STERN MeToo EU16:03

Das Europaparlament spricht kaum Sanktionen gegen Abgeordnete wegen sexueller oder psychologischer Belästigung aus. 
Das Europäische Parlament hatte bis 2018 nicht einmal ein Beschwerdeverfahren gegen Abgeordnete. Erst richtete dieses erst 2018 auf Druck der Initiative MeTooEP ein. Doch es ist sehr dürftig. Dem Parlament geht es in erster Linie darum, den Ruf der Institution zu schützen, nicht das Personal. Der Ausschuss, der Beschwerden prüft, besteht zur Hälfte aus Abgeordneten. Das lädt Betroffene nicht wirklich dazu ein, ihre Erfahrungen zu teilen, insbesondere da sie vom Europaparlament keine Unterstützung erhalten. Wir haben mit MeTooEP versucht, die Prozedur zu verbessern, aber wir hatten wenig Erfolg. Und wenn nur wenige Menschen eine Beschwerde einreichen, kann das Parlament sagen: "Es gibt kein Problem".

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