World News in German

Gehirnreife: Hirn genug? Warum es genau richtig ist, erst in den 30ern erwachsen zu werden

Stern 
Gehirnreife: Hirn genug? Warum es genau richtig ist, erst in den 30ern erwachsen zu werden

Ehe, Kinder, Haus – vieles gehen wir inzwischen, wenn überhaupt, erst unseren 30ern an. Zu spät? Nicht, wenn wir auf geistige Reife warten.

Der dänische Theologe und Philosoph Søren Kierkegard kam einst zu dem Schluss, dass das Leben zwar vorwärts gelebt, aber rückwärts verstanden wird. Er war ein kluger Mann. Denn die Wahrheit ist, dass wir Zeit unseres Lebens versuchen, das Leben zu verstehen und uns darin möglichst ordentlich anzustellen. Man hat ja nur eines. Das Problem daran ist allerdings, dass es sich um ein Trial-and-Error-System handelt, ständig muss nachgebessert und nachjustiert werden.

Sicher, es gibt ein paar Leitplanken, die Orientierung geben können, ein paar Gesetze, einige gesellschaftliche Normen. Das glückliche oder verpfuschte Leben anderer, die uns ein paar Jahre voraus sind. Wir sind imstande zu reflektieren und zu imaginieren, abzuwägen – in die Zukunft zu schauen, alle Eventualitäten einbeziehen, können wir aber trotzdem nicht. Jede Entscheidung bleibt ein Wagnis.

In der Realität gibt man uns 18 Jahre, dann sollen wir das Spiel, das sich Leben nennt, verstanden haben. Nach 18 Jahren werden wir aus dem Nest geworfen, gelten – zumindest vor dem Gesetz – als erwachsen und haben der Idee nach, die Phase erreicht, auf die man seine komplette Kindheit lang hingearbeitet hat. Aus einem Prozess ist also ein Zustand geworden: das Erwachsensein. Aber sind wir mit 18 wirklich schon bereit für die Welt? Unser Gehirn würde widersprechen.PAID Trennungserwachsene 16.14

Ab wann sind wir wirklich erwachsen?

Es gibt Menschen, die mit zwölf schon reifer sind als andere mit Mitte 30. Genauso gibt es Menschen, die sich ein Leben lang dem Gefühl nicht erwehren können, dass sie das Erwachsensein mehr simulieren, als es zu sein.

Erwachsensein ist ein Konstrukt, das lange Zeit mit bestimmten Indizien vermeintlicher Reife assoziiert wurde: Ehe, Kinder, Eigenheim – und das möglichst schnell. Heutzutage können sich immer weniger Menschen überhaupt mit dem Gedanken anfreunden, den sogenannten Bund fürs Leben einzugehen oder eine Familie zu gründen und wenn sie es tun, warten sie damit, bis sie in den 30ern sind. Aber ist das wirklich ein Zeichen dafür, dass sie einfach nicht erwachsen werden wollen, wie es immer wieder heißt, oder handelt es sich vielleicht eher um Entscheidungen des gesunden Menschenverstands?

Tatsache ist schließlich, dass es hanebüchen ist, es als gesetzt zu sehen, dass bestimmte äußere Faktoren und Reife miteinander Hand in Hand gehen – sie können, müssen es aber nicht. In der Neurowissenschaft wird daher schon länger darüber diskutiert, ob es nicht klüger wäre, das Erwachsensein als einen Prozess zu begreifen, der im Inneren stattfindet und eine psychologische Entwicklung widerspiegelt und nicht als etwas, das man automatisch erreicht, weil man eine bestimmte Altersschwelle übertritt. STERN PAID Narzissmus 21.10

So sagte Peter Jones, Wissenschaftler in Cambridge, schon 2019, dass zu denken, ein solcher Übergangszeitpunkt könne definiert werden, zunehmend absurd werde – auch wenn das für Schul-, Gesundheits- und Justizsysteme sicher praktisch sei. "Es gibt nicht eine Kindheit und dann ein Erwachsensein. Menschen sind auf einem Weg, sie sind auf einer Flugbahn", so Jones. Klar ist: jeder Mensch hat sein individuelles Entwicklungstempo. Nach Untersuchungen des Gehirns hatten die Forschenden jedoch festgestellt, dass es sich beim Erwachsenwerden um eine schleichende Entwicklung handele, die über drei Jahrzehnte stattfinde. Geistige Reife erreichen wir demnach also ohnehin erst in unseren 30ern, weil wir erst dann auf ein "erwachsenes" Gehirn zugreifen können. 

Ewige Adoleszenz

Die Verschiebung bestimmter Lebensetappen in die 30er könnte also tatsächlich wissenschaftlich Sinn ergeben. Denn mit 18 sind wir in der Regel zwar geschlechtsreif, dürfen Auto fahren, gelten als mündig – unser Gehirn ist dann aber noch längst nicht so weit. 

Die verschiedenen Hirnareale entwickeln sich nicht gleichmäßig. Manche entwickeln sich früher im Leben als andere, manche benötigen länger. So gibt es Hinweise darauf, dass uns das Erlernen schwieriger Sprachen bis zum zehnten Lebensjahr am leichtesten fällt. Andere Fähigkeiten erlernen wir größtenteils erst, nachdem wir offiziell schon als erwachsen gelten.

Erkenntnisse der Neurowissenschaft deuten darauf hin, dass die Nervenzellen (graue Substanz) des Gehirns bis Mitte 20 wachsen, sogenannte Verbindungszellen (weiße Substanz) sogar bis 30. Gerade die Entwicklungsphase bis Mitte 20 scheint laut Wissenschaftler:innen insgesamt für die Reifung des Menschen noch einmal wesentlich zu sein. So ist der frontale Kortex, das ist ein Bereich des Hirns, der unter anderem wichtig für unser Denk- und Planvermögen ist, aber auch für das Überwachen unseres eigenen Tuns zuständig ist, wohl erst mit etwa 25 vollkommen ausgebildet.

Und auch für unser Sozialverhalten scheint die Zeit zwischen 18 und 25 höchstwahrscheinlich noch einmal wichtig zu sein. Demzufolge werden dann noch einmal Hirnareale weiterentwickelt, die uns ermöglichen, uns selbst sowie unser Verhalten im Umgang mit anderen besser einschätzen und kontrollieren zu können. Die Mär von der ewigen Fruchtbarkeit des Mannes 19Uhr

Und auch nach der magischen 30 ist das Gehirn noch in der Lage sich zu verändern. "Hirnareale können Funktionen voneinander übernehmen oder zusammenarbeiten", berichtet "Spektrum". Mit 30 beginnt es allerdings auch schon wieder langsam zu schrumpfen.

Eine Frage des Hirns?

Niemand muss mit dem sogenannten Erwachsenwerden warten, bis er über 30 ist. Niemand wird in seinen 30ern plötzlich erwachsen. Jeder hat sein eigenes Tempo. Die Wissenschaft besagt nur, dass wir höchstwahrscheinlich erst in unseren 30ern volle geistige Reife erlangen. Das soll aber nicht heißen, dass jede vergangene Fehlentscheidung mit der Unausgereiftheit des noch zu jungen Gehirns zu rechtfertigen wäre. Oder jede wichtige Lebensentscheidung in die 30er verschoben werden sollte. Denn zu den Wahrheiten der Realität gehört auch, dass andere Teile des Körpers nicht darauf warten, bis der Kopf bereit ist. Kinderkriegen gehört dazu. Ab 30 nimmt schließlich die Fruchtbarkeit bei Frauen ab, ab 35 drastisch. 

Quelle: Nature, PNAS, Wiley, Spektrum, Statista Kinder, Statista Kinder 2, Destatis Ehe, Destatis Ehe 2, BBC, Tagesschau

Читайте на 123ru.net