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Anschlag auf Tesla: Die Autoindustrie steht Infrastrukturattacken schutzlos gegenüber

Stern 
Anschlag auf Tesla: Die Autoindustrie steht Infrastrukturattacken schutzlos gegenüber

Ausfall bei Tesla durch Sabotage am Stromnetz: Ein Produktionsprofi erklärt, warum sich die Industrie gegen solche Angriffe kaum wappnen kann und warum die Kosten schnell hunderte Millionen erreichen können.

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Der Brandanschlag auf einen Strommast, der seit Dienstag das Tesla-Werk in Grünheide lahmlegt, war nach allem, was man weiß, keine besonders ausgefeilte Tat. Die Folgen aber wiegen schwer: einen hohen dreistelligen Millionenbetrag könnte der Produktionsausfall laut Werkleiter André Thierig kosten und mindestens fünf Tage dauern. Mittlerweile spricht das Unternehmen davon, dass die Produktion in Grünheide erst Ende kommender Woche wieder angefahren werden kann. Damit wird der Schaden noch viel größer.

Im Prinzip, sagt der Autoproduktionsspezialist Heiko Weber, könnte eine solche Attacke jeden Autobauer in Europa treffen. "Bei einem Stromausfall dieser Größenordnung kenne ich keinen Hersteller, der darauf vorbereitet ist", sagt er. Und Weber kennt die Produktionssysteme der großen Autobauer im Detail: Er ist bei der auf Autofirmen spezialisierten Beratungsfirma Berylls unter anderem für Produktion und Lieferketten zuständig.

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Dass die Autoindustrie ungeschützt ist, gilt laut Weber nicht nur für die Stromversorgung, sondern auch zum Beispiel für Telekommunikationsnetze oder Wasserleitungen: "Ein Anschlag auf die infrastrukturelle Versorgung kann jedes Autowerk empfindlich treffen und lahmlegen". Die Schutzlosigkeit sei nicht etwa ein Zeichen von Naivität der Industrie, sagt Weber. Auch Tesla habe wahrscheinlich, wie in der Industrie üblich alle Risiken durchgerechnet, bevor der Konzern das Werk gestartet habe. Aber es sei schlicht nicht bezahlbar, dass ein Autohersteller ein eigenes Kraftwerk am Standort bereithält, falls die Stromversorgung zusammenbricht. Und mit einer Notstromversorgung unterhalb von Kraftwerksgröße wäre der immense Energiehunger eines Autowerks nicht zu stillen. Der ist nämlich so groß wie der Bedarf einer Großstadt. In gewisser Hinsicht eine Ausnahme ist der VW-Konzern, der am Stammsitz in Wolfsburg traditionell zwei eigene Kohlekraftwerke betreibt und daher eine gewisse Kontrolle über die Energieversorgung hat. Ansonsten können die Systeme der Hersteller nur vorübergehende Spannungsschwankungen abfangen, mehr aber nicht. 

Nicht nur Tesla muss sich Sorgen machen

Der gezielte Angriff von Extremisten auf Tesla erhöht somit die Dringlichkeit bei einem politischen Thema: Wie können Staat und Netzbetreiber kritische Infrastruktur gegen Attacken absichern? In der Vergangenheit gab es zwar auch schon mal Angriffe, etwa auf Leitungen und Gleise der Deutschen Bahn. Doch dass eine große Industrieanlage von Straftätern derart ausgeknockt wird wie jetzt das Tesla-Werk, ist ein neues Phänomen. Der Angriff am Berliner Stadtrand wäre im Grundsatz wohl an anderen Industriestandorten leicht wiederholbar – egal ob dann politisch motivierte Terroristen, Geheimdienste, Erpresser oder andere dahinterstecken.

In einem Autowerk sind zudem die Folgen eines Stromausfalls immer gravierend, wie Berylls-Experte Weber ausführt. Zwar ließen sich IT-Systeme in der Regel recht komplikationslos wieder hochfahren, wenn der Strom wieder fließt. Aber die Hardware – vor allem die Roboter – seien viel schwieriger wieder in Gang zu setzen, wenn sie mitten in der Produktion jäh angehalten werden. "Was wirklich Zeit kostet, ist hängengebliebene Produktionsroboter im Prozess wieder in Gang zu bringen", so Weber. An jeder einzelnen Anlage müssten die halbfertigen Teile herausgelöst werden, die Roboter zurückgefahren und ihre Einstellung wie in einem Produktionsanlauf überprüft werden. 

Jeder Tag ohne Produktion kostet Millionen

Die teilweise fertig gebauten Teile und Autos, die aus den Robotern gezogen werden, müssten wohl größtenteils entsorgt werden. "Ich gehe davon aus, dass bei Tesla zig Karossen Ausschuss sind", sagt Weber. Besonders im Rohbau, aber auch in der Montage ließen sich die teilproduzierten Stücke kaum wieder in die Produktion zurückführen. Roboter schweißen (eine Rohkarosse hat rund 6000 Schweißpunkte), sie nieten, kleben, setzen ein und sind so in jeder Autofabrik überall allgegenwärtig. Die Instandhalter und Anlageneinrichter des Werkes müssen sie alle mühevoll wieder in Gang bringen. "Damit sind sie mindestens einen Tag lang beschäftigt", sagt Weber. 

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So werden auch die hohen Kosten realistisch, die Werkleiter Thierig genannt hat. Wobei die langwierige Wiederherstellung der Produktion noch gar nicht am meisten ins Gewicht fällt, sondern natürlich der Produktionsausfall. Thierig geht offenbar bei seiner Rechnung von 1000 normalerweise in Grünheide produzierten Tesla Model Y aus, was nach Branchenangaben recht hochgegriffen scheint. Aber wenn man dabeibliebe und nur 20.000 Euro Deckungsbeitrag pro Fahrzeug ansetzen würde, dann kämen pro Produktionstag schon 20 Mio. Euro Verlust zusammen – allein für die Ausfälle.

Eine Möglichkeit wäre, dass der Hersteller versucht, den Energieversorger in Regress zu nehmen – das ist aber von der individuellen Vertragsgestaltung zwischen Werk und Versorger abhängig. Produktionsexperte Weber glaubt, dass der Vorfall bei Grünheide alle Hersteller alarmieren dürfte: "Da wird sicherlich der eine oder andere Produktionsvorstand seine führenden Mitarbeiter fragen: ,Was ist, wenn das bei uns passiert". Die Antwort würde dann wahrscheinlich sein: Der Autobauer könnte nicht sehr viel dagegen tun.

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