Sechs Neulinge im DFB-Team: Julian, der Baumeister: Warum Nagelsmann das Nationalteam radikal renoviert
Nur wenige Monate vor der EM baut Julian Nagelsmann das DFB-Team um und bricht mit zahlreichen altgedienten Spielern. Loyalitäten zählen für den Trainer nicht – er fühlt sich nur dem Moment verpflichtet.
In vier Monaten schon läuft der Vertrag von Julian Nagelsmann beim DFB aus. Womöglich wird er dann der Bundestrainer mit der kürzesten Amtszeit in der Geschichte des Verbandes gewesen sein. Nagelsmann, 36, hatte erst Ende September 2023 den Job von Hansi Flick übernommen und beide Parteien, der DFB und sein junger Trainer, kamen überein, dass man sich erstmal auf die Europameisterschaft konzentrieren wolle. Die findet in Deutschland statt und soll ein zweites Sommermärchen werden – so wünscht der Verband sich das. Erst nach dem Turnier wollte der Verband mit Nagelsmann besprechen, ob es eine gemeinsame Zukunft geben könnte. Das war der Plan.
Aus diesem Plan wird nichts. Nagelsmann sagte am Dienstag in Frankfurt, dass er sich gern frühzeitig um seine berufliche Zukunft kümmern wolle. Aktuell habe er zwar noch „keinen Zettel“ vorliegen, also kein Angebot eines Klubs oder Verbandes, sollte aber etwas Interessantes dabei sein, würde er sich umgehend damit beschäftigen. Gut möglich also, dass Nagelsmann schon vor Anpfiff der EM einen sogenannten Zettel unterschreibt und dann die Nationalmannschaft als zukünftiger Ex-Trainer durchs Turnier führt.
Alles ist offen, und das lässt Nagelsmann mutig werden, geradezu kühn, wie die Nominierung des Kaders für die beiden Testspiele gegen Frankreich (Samstag, 23. März, 21 Uhr, ZDF) und die Niederlande (Dienstag, 26. März, 20:45 Uhr, RTL) zeigt.
Sechs Neulinge stehen im Kader der Nationalmannschaft
Nagelsmann hat sechs Neulinge berufen, darunter drei Stuttgarter, die Verteidiger Waldemar Anton und Maximilian Mittelstädt sowie den Stürmer Deniz Undav. Es sind Spieler, die einen Flow haben, ein Momentum, wie das im Fußballjargon heißt. Noch in der vergangenen Saison kämpften sie mit dem VfB gegen den Abstieg, jetzt geht es völlig überraschend um einen Startplatz in der Champions League. Stuttgart ist neben Leverkusen die Mannschaft der Stunde – diesen Flow will Nagelsmann nutzen.
Auch im kleinen Heidenheim wurde er fündig. Jan-Niklas Beste, 25, einst in Dortmund und Bremen gescheitert, wird der erste deutsche Nationalspieler der Vereinsgeschichte werden. Schon jetzt ist das eine romantische Geschichte: Ein zauseliger Backenbart grätscht sich nach ganz oben. Aber taugt jemand wie Beste, der in der ostwürttembergischen Provinz Milieuschutz genießt, auch auf der großen, grell ausgeleuchteten Bühne?
Fragen wie diese wird sich Nagelsmann gefallen lassen müssen, wenn sein radikaler Umbau nicht zu den erhofften Ergebnissen bei der EM führt. Denn jemanden wie Beste zu holen, bedeutet auch, anderen die Tür zu weisen. Leon Goretzka, Nico Schlotterbeck, Niklas Süle, Julian Brandt und Mats Hummels – sie alle sind den Renovierungsarbeiten von Nagelsmann zu Opfer gefallen. Alles klangvolle Namen, ein jeder mit Verdiensten für den DFB.
Das unterscheidet Julian Nagelsmann von Löw und Flick
Nagelsmann jedoch fühlt sich nur dem Moment verpflichtet. Er baut eine Mannschaft allein für die Europameisterschaft. Er denkt nicht in großen Bögen wie seine Vorgänger Flick oder Löw, die stets grübelten, wie das Team denn in ein oder zwei Jahren aussehen könnte. Nagelsmanns Nominierungen sind eine Apotheose des Augenblicks. Es gibt keine Loyalitäten, kein Gestern, kein Übermorgen. Nur die EM.
Für jede einzelne Personalentscheidungen mag der Bundestrainer gute Argumente besitzen, doch das Gesamtbild ist irritierend. Große Umbrüche werden im Fußball meist nach Welt- oder Europameisterschaften eingeleitet – und selten kurz davor. Bringt nur Unordnung und Unruhe, so lautet die gängige Lehrmeinung.
Nagelsmann wird wenig Zeit bleiben, um all die Neuen zu integrieren. Ein paar Trainingseinheiten nächste Woche in Frankfurt, im Anschluss die beiden Länderspiele gegen Frankreich und die Niederlande – und dann sieht man sich erst im Mai wieder, zu einem Lehrgang in der Nähe von Weimar.
Immerhin wird Nagelsmann die Analyse des nächsten Gegners leichtfallen. Während der Bundestrainer im eigenen Team die Verhältnisse zum Tanzen gebracht hat, bleibt es beim WM-Zeiten Frankreich ruhig. Keine Neulinge, keine Jungspunde, nichts. Nationaltrainer Didier Deschamps hatte auf seine Mannschaft geschaut und sah, dass sie gut war.