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Reichsbürger-Prozess gegen "Gruppe Reuß": Erster Angeklagter sagt im Terrorverfahren aus: Nichts gehört, nichts gesehen

Stern 
Reichsbürger-Prozess gegen

Im Mammut-Prozess gegen die mutmaßliche Terrorgruppe um Prinz Reuß äußert sich Wolfram S. ausführlich vor dem Oberlandesgericht Stuttgart. Schnell wird seine Strategie deutlich.

Nacheinander treten sie in Sitzungssaal eins des Oberlandesgerichts Stuttgart. Das Panzerglas, das sie von ihren Anwälten und den Zuschauern trennt, ist mehrere Zentimeter dick. Die neun Männer tragen Handfesseln, manche schirmen ihre Gesichter mit Notizblöcken von den Kameras ab. Mehr als ein Dutzend Justizbeamte wacht scheinbar über jeden ihrer Schritte.

Neben einem Dutzend Journalisten sind auch Angehörige und Freunde der Angeklagten im Sitzungssaal. Die Freundin des Angeklagten Marco van H., Ende 40, trägt ein T-Shirt unter ihrer roten Jacke: "I believe in you". Ich glaube an dich.

Es ist Tag zwei des Mammut-Verfahrens gegen neun mutmaßliche Mitglieder der Terrorgruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß. Sie sollen mit Waffengewalt einen Regierungssturz geplant haben, davon geht die Bundesanwaltschaft aus. In Stuttgart sitzen vor allem mutmaßliche Mitglieder einer eigenen Militäreinheit der Gruppierung auf der Anklagebank. Männer, die unter anderem bewaffnete Heimatschutzkompanien aufgebaut haben sollen, um nach einem Umsturz die Kontrolle im Land zu übernehmen. 

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Dieser Montag in Stuttgart vermittelt einen Eindruck von der aktuellen Stimmung der Männer. Sie plaudern miteinander, Markus L. und Matthias H lächeln sich an, Steffen W. fläzt sich gelangweilt in seinen Stuhl. Dafür, dass sie in einem der größten Terrorverfahren der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland angeklagt sind, wirken die Männer hinter der Panzerglasscheibe erstaunlich gelassen.

Reichsbürger-Prozess in Stuttgart: Mehr Fragen als Antworten

Einer aber vermittelt einen nervösen Eindruck. Wolfram S., Mitte 50, schütteres Haar, hatte überraschend zum Prozessauftakt angekündigt, sich zu seiner Person und zur Sache äußern zu wollen. Der Vorwurf der Ankläger gegen ihn: Mitgliedschaft in der Gruppe, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Er soll unter anderem Laptops beschafft, IT-Infrastruktur aufgesetzt und eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben haben, die die Androhung einer Todesstrafe enthielt.

Wolfram S. nestelt an seinem Mikrofon, atmet durch, und beginnt dann mit seiner Einlassung, die den ganzen Tag dauern wird. Und bei der man als Zuhörer am Ende mehr neue Fragen als Antworten hat.

Er habe eine glückliche Jugend gehabt. Der Vater sei Arzt gewesen, die Mutter Hausfrau. Er sei zwischen Wiesen und Feldern großgeworden, habe in einer Band gespielt und sich ständig mit Motoren und anderer Technik beschäftigt. "Ich war ein Warum-Kind", sagt S. "Ich habe alles zerlegt, um zu verstehen, wie es funktioniert." 

S. zeichnet von sich selbst das Bild eines Menschen, der den Wehrdienst verweigert und sich ehrenamtlich für Leukämiekranke einsetzt hat. Und der nichts mit Waffen oder gewaltsamen Plänen einer mutmaßlichen Terrorgruppe zu tun gehabt haben will.

S. sagt: "Ich habe ja schon Schwierigkeiten mit Camouflage-Klamotten."

Er sagt: "Ich bin politisch links-grün." 

Das Gericht wirkt wenig überzeugt von den Angaben des mutmaßlichen Reichsbürgers

Das Gericht konfrontiert S. mit seinen Teilnahmen an Treffen der Gruppe und seine mutmaßliche Rolle als deren IT-Administrator. So soll er unter anderem Datenbanken für Mitlieder erstellt haben. Der Vorsitzende Richter fragt ihn etwa, wann er das erste Mal den Namen eines der mutmaßlichen Führungsmitglieder der Gruppe, Rüdiger von Pescatore, gehört habe. Oder, ob er bei bestimmten Treffen der Gruppe dabei gewesen sei. Er stellt Dutzende Fragen dieser Art.

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An Stellen, wo es für den Strafprozess wirklich interessant wird, sagt S. meist: "Ich kann mich nicht erinnern."

Die Frage des Richters, ob S. sich je Gedanken darüber gemacht habe, dass bei den Vorhaben der Gruppe auch Menschen zu Tode hätten kommen könnten, beantwortet dieser mit: "Definitiv nein." Wenn bei Treffen von bewaffneten Kompanien die Rede gewesen sei, habe er gedacht, man spreche über die Bundeswehr. Mit den anderen Angeklagten habe er sich bei Treffen vor allem über harmlose Themen und Privates unterhalten. Darin, so scheint es, liegt die Verteidigungsstrategie des Wolfram S: Nichts gehört, nichts gesehen.

Das Gericht wirkt davon wenig überzeugt. Immer wieder blickt der Vorsitzende irritiert in Richtung Anklagebank.

Als ihm bei einem Treffen eine Verschwiegenheitserklärung der Gruppe vorgelegt worden sei, versehen mit dem Namen "Prinz Reuß" und dem Hinweis, dass bei Missachtung die "Todesstrafe" stehe, habe er lachen müssen, erzählt S. "Ich habe gedacht: Das ist ja wie beim Schuh des Manitu, wo am Anfang die Blutsbrüderschaft eingegangen wird." Und weiter: "Wenn da Todesstrafe steht, unterschreibe ich. Wenn sie mich umbringen, haben sie halt keinen IT-Mann mehr."

S. lacht überhaupt sehr oft an diesem Tag. Allerdings wird an diesem zweiten Prozesstag auch deutlich, dass S. ein Mensch mit Ängsten gewesen sein muss. Er gibt an, überall lauernde Gefahren gesehen zu haben: die eines weltweiten Stromausfalls, eines Datenmissbrauchs großer Konzerne, oder von Sonnenstürmen und Hackerangriffen. Corona habe ihn noch nachdenklicher werden lassen, in welch "fragilem System wir leben."

Der sogenannte "Tag X", in der Vorstellungswelt von Verschwörungsfanatikern und rechten Ideologen, der Tag des Zusammenbruchs der gesellschaftlichen Ordnung und der Übernahme einer neuen Führung ist eine zentrale Verschwörungstheorie der sogenannten "Gruppe Reuß". 

S. sagt, er habe irgendwann selbst daran geglaubt. 

Abschließend kann das Gericht die Rolle von Wolfram S. an diesem Tag nicht klären. Zurück bleiben viele Fragezeichen. Und die Sicherheit, dass sich dieses Mammutverfahren mit all seinen Protagonisten, Wirrnissen und Zeugen wohl noch lange hinziehen wird.

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