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Ärztetag 2024: Wer kümmert sich um unsere Gesundheit in Zeiten des Ärztemangels? Rettung ist in Sicht

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Ärztetag 2024: Wer kümmert sich um unsere Gesundheit in Zeiten des Ärztemangels? Rettung ist in Sicht

Die Hausarztpraxen sind überlaufen. In Zukunft werden viel mehr Patienten dazukommen. Das kann funktionieren – aber nur mit Reformwillen. An dem mangelt es noch.

Wissen Sie, was eine "Verah" ist? Nein? Sollten Sie kennen. Verah bedeutet "Versorgungsassistentin", und ob in Ihrer Hausarztpraxis eine angestellt ist oder nicht, das könnte sich entscheidend auf Ihre Gesundheit auswirken. Also, wenn Sie mal alt und krank sind. 

Verahs sind eine von mehreren besonders guten Lösungen, um dem vielbeschworenen Ärztemangel zu begegnen. Es sind Medizinische Fachangestellte (MFA, früher: "Arzthelferinnen"), die sich umfangreich weiterqualifiziert haben. Sie übernehmen Routine-Aufgaben, die bisher die Hausärztin übernommen hat. Das ist kein Zukunftsszenario, sie sind mitten unter uns, 15.000 gibt es mittlerweile.

Verahs rufen in regelmäßigen Zeitabständen chronisch kranke Patienten an, um sich nach ihrem Zustand zu erkundigen. Sie machen Haus- und Pflegeheimbesuche, versorgen dort die Wunden von Diabetes-Patienten, führen Blutabnahmen, Blutdruckkontrollen, Impfungen durch – also alles, was MFA in Praxen auch machen. Nur dass für Hausbesuche meist allein der Hausarzt zuständig ist – obwohl er auch so genug zu tun hat. Mein eigener Hausarzt versorgt deshalb schon seit Jahren kein Pflegeheim mehr. Das ist kein zukunftsweisender Weg.

Eine "Arztassistentin" macht selbständig Ultraschall-Untersuchungen

Viele Verahs spezialisieren sich – zum Beispiel auf Wundversorgung, häusliche Sterbebegleitung, Demenz oder Burnout. Manche absolvieren Aufbaustudiengänge und übernehmen dann noch mehr Verantwortung – natürlich auch für einen deutlich höheren Verdienst. In der Großpraxis der Hausärztin Susanne Bublitz aus Pfedelbach bei Stuttgart arbeiten gleich vier solche Spezialistinnen. Sie glaubt: "Mit solchen Karrierechancen können wir auch Absolventinnen mit guten Realschulabschlüssen für diesen Beruf gewinnen."  Wer in Pfedelbach mit Routineproblemen wie Husten, Schnupfen, Heiserkeit oder Magen-Darm-Problemen kommt, wird zuerst zu einer ihrer Assistentinnen gelotst, die dann gemeinsam mit dem Patienten über den weiteren Weg entscheidet. Bublitz habe so mehr die Zeit für die wirklich komplexen Fälle, sagt sie. Eine Mitarbeiterin, die in Köln "Arztassistentin" studiert, macht selbständig Ultraschalluntersuchungen, Bublitz schaut dann nur noch kurz zur Kontrolle vorbei. 

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Geht doch nicht, sagen Sie, kann doch nur der Arzt machen? Wenn Sie so denken, sprechen Sie vielen Abgeordneten auf dem Ärztetag 2024 aus der Seele. Denn es gibt wenig, wovor die Ärzteschaft mehr Angst hat als davor, vermeintlich ureigene ärztliche Aufgaben zu verlieren. Egal, wie groß der Ärztemangel ist. Zwei Worte machen ihnen Angst: Die "Delegation" von ärztlichen Aufgaben, aus der allzu leicht auch eine "Substitution" werden könnte. Sprich: MFA und auch Pflegekräfte mit akademischen Weihen könnten sie ein Stück weit ersetzen, gerade jetzt, da viele von ihnen auch die Möglichkeiten der KI weniger als Chance denn als Bedrohung begreifen.

Die Hausärztin Bublitz hat zusammen mit anderen Allgemeinärztinnen und -ärzten mehrere Anträge zur Abstimmung auf dem Ärztetag eingereicht, in denen es unter anderem um die Delegation ärztlicher Aufgaben an MFA geht. Einer kam durch: Ein Antrag zur Ausweitung der "hausarztzentrierten Versorgung" (HzV). Das Konzept sieht vor, dass Patienten sich freiwillig bereit erklären, ihren Hausarzt für fast alle gesundheitlichen Fragen zuerst zu konsultieren – bevor sie zu Fachärztinnen gehen.

Weniger Krankenhauseinweisungen, weniger schwere Komplikationen

So ein Konzept, das ganz wesentlich auf der Delegation ärztlicher Aufgaben beruht, könnte aufgehen, wie das Beispiel Baden-Württemberg zeigt. Dort wurde die "HzV" schon vor 15 Jahren in Selektivverträgen zwischen Krankenkassen und Ärzten breit etabliert. In einer Zwischenbilanz der Unikliniken Frankfurt und Heidelberg zeigte sich, wie sehr zum Beispiel die teilnehmenden Diabetiker profitierten: Bei ihnen traten 11.000 schwere Komplikationen wie Schlaganfälle, Erblindungen, Nierenschäden oder Amputationen weniger auf als bei vergleichbaren Patienten in der Regelversorgung. Auf alle 1,78 Millionen Versicherte bezogen gab es 27.000 Krankenhauseinweisungen und 125.000 Krankenhaustage weniger. 

Obwohl auch die gesetzlichen Krankenkassen diese Erfolge anerkennen, wird bezweifelt, dass Baden-Württemberg eine Blaupause für Deutschland werden könnte. "Dort sind die Verträge freiwillig zustande gekommen, und sie werden von weiteren Facharztprogrammen ergänzt", sagt ein Sprecher des AOK-Bundesverbands.

Zukunftsvision Primärversorgungszentren: Auf rätselhafte Weise aus dem Gesetzentwurf verschwunden

Neben der "Hausarztzentrierten Versorgung" gibt es noch revolutionärere Konzepte gegen den Ärztemangel, die den Medizinern mehr Last von den Schultern nehmen würden. Die Rede ist von "Primärversorgungszentren", wie die Bundesregierung sie noch bis vor kurzem plante. Es gibt preisgekrönte, international bekannte Vorzeigeprojekte wie die Poliklinik Veddel, die in einem Hamburger Stadtteil gegründet wurde, nachdem es keinen Kassenarzt mehr gab. Es ist ein basisdemokratisch organisiertes Kollektiv, in dem alle Gesundheitsberufe auf Augenhöhe arbeiten, Ärzte, Physiotherapeuten, Psychologinnen, Pflegekräfte, Sozialarbeiterinnen, Hebammen, Ehrenamtliche. Über dieses Konzept hinaus ging eine Vision, die SPD, Grüne und FDP im Koalitionsvertrag formulierten – da war von "integrierten Gesundheitszentren" die Rede, in denen auch Patienten mit entgleistem Diabetes oder Bluthochdruck für wenige Tage stationär liegen könnten, ohne dass dafür die teure Logistik eines großen Krankenhauses nötig wäre. 

Karl Lauterbach sitzt auf dem Ärzte neben Bundesärztekammerpräsident Klaus Reinhardt
In vielen Punkten konträrer Meinung: Ärztekammerpräsident Klaus Reinhardt und Karl Lauterbach auf dem Ärztetag 2024 am Dienstag diese Woche.
© dpa

Primärversorgungszentren, davon sind viele Experten überzeugt, sind ein Lösungsansatz für die große Frage, wie Gesundheit bezahlbar bleibt. Deutschland hat bereits heute eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt. Knapp 500 Milliarden Euro flossen zuletzt, 12,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nur die USA und die Schweiz geben mehr aus. 

Primärversorgungszentren waren eines der Herzensprojekte des Gesundheitsministers Karl Lauterbach und bis März 2024 Bestandteil des Referentenentwurfs des "Gesundheitsvorsorgestärkungsgesetzes". In der nun zur Abstimmung stehenden Fassung vom April sind sie auf rätselhafte Weise verschwunden.

stern PAID Kommentar Ärztemangel 10:33

Es darf vermutet werden, dass die Lobbyarbeit der Ärzteschaft hier wirksam war. Bundesärztekammerpräsident Klaus Reinhardt jedenfalls begrüßte die Streichung der Primärversorgungszentren. Auf Nachfrage des stern räumt er ein, dass solche Konzepte zwar vielversprechend seien, aber angesichts der zu Ende gehenden Legislaturperiode zu komplex. Auf Lauterbachs Tisch lägen 15 nicht realisierte Gesetzesprojekte. "Da befürchte ich, dass es dann zu gar nichts mehr kommt." 

So überrascht es nicht, dass auch der Antrag für das stark abgespeckte Konzept der "hausärztlichen Primärversorgungszentren", das Bublitz ebenfalls mit auf den Weg brachte, in der Abstimmung auf dem Ärztetag durchfiel. Allein das Wort schon scheint den Medizinern Angst zu bereiten. 

So warten wir weiter auf den großen Wurf: Auf die wirkliche "Zeitenwende" im Gesundheitswesen, die der hochambitionierte, gleichwohl bisher erfolglose Lauterbach auf dem Ärztetag ein weiteres Mal beschwor.

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