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Medizin-Eignungstest: Hochintelligent und 1,0-Abi – sind das wirklich die Ärzte, die das Land jetzt braucht?

Stern 

Trotz akutem Ärztemangel sind die Hürden für Bewerber um ein Medizinstudium hoch. Am Wochenende wurde wieder an 51 Orten in Deutschland ausgesiebt. So ein Auswahlverfahren ist nicht mehr zeitgemäß.

Am Wochenende war es wieder mal so weit: Über die ganze Republik verteilt kämpften in Kongresssälen und Messehallen junge Menschen um einen der begehrten Medizin-Studienplätze. 15.802 Personen hatten sich für den Test für Medizinische Studiengänge (kurz: TMS) beworben. Die Prüfung ist ähnlich konzipiert wie Intelligenztests, abgefragt werden die Merkfähigkeit, das räumliche Vorstellungsvermögen, medizinisch-naturwissenschaftliches Grundverständnis, mathematische Fähigkeiten und Textverständnis.

Der 19-jährige Sebastian, genannt Basti, hat gerade drei Monate Pflegepraktikum hinter sich und war begeistert. Falls er Medizin studiert, würde er um 2030 seine erste Stelle antreten. Doch herrscht dann immer noch Ärztemangel?
© Bernhard Albrecht

In Berlin unterzog sich auch mein Patensohn Basti der knapp siebenstündigen Prozedur. Gestern um neun Uhr fand er sich mit knapp fünfhundert Mitbewerberinnen und Mitbewerbern im großen Saal eines Hotels ein. "Alle waren sehr angespannt", beschreibt er die Stimmung. Man redete wenig miteinander, auch nicht während der Mittagspause. Seinen Rucksack musste er in der Garderobe abgeben, den Raum betreten durfte er nur mit einem durchsichtigen Zippbeutel, darin Bleistift, Spitzer, Textmarker, Traubenzucker und Kaugummis. Schmierpapier für Notizen war verboten.

Basti musste besser abschneiden als 70 Prozent der anderen, hat er sich ausgerechnet. Denn für die "Abiturbestenquote", über die 30 Prozent der Studienplätze vergeben werden, reicht sein Notenschnitt mit 1,2 nicht ganz, 1,0 bräuchte man – wobei es dann noch darauf ankäme, in welchem Bundesland und mit wie viel Punkten genau. Niedersachsen und Bayern genügt ein schlechteres 1,0 als Berlinern, deren Abi als besonders leicht gilt.

STERN PAID Ärzteschwemme Ärztemangel 12:08

Medizinstudium: Neun von zehn Studienplätzen werden an eine Intelligenz- und Leistungselite vergeben

Der Eignungstest entscheidet mit über die Vergabe weiterer 60 Prozent der Studienplätze. In dem komplexen Auswahlalgorithmus spielt immer noch die Abinote eine Hauptrolle, daneben je nach Uni auch mal Berufsausbildungen, ein Siegerplatz bei "Jugend forscht" oder Ehrenämter. Daneben gibt es Studienplätze für künftige Allgemeinärzte, die in vielen Bundesländern nach einer "Landarztquote" vergeben werden, für angehende Sanitätsoffiziere der Bundeswehr, für soziale Härtefälle, sowie ein sehr kleines Experimentierfeld, auf dem Unis was Neues ausprobieren können.

Klar aber ist: Neun von zehn Studienplätzen werden nach harten Kriterien an eine Intelligenz- und Leistungselite vergeben. Sind das wirklich die Ärztinnen, die wir brauchen? Die einfühlsam sind, wenn sie jemandem eine tödliche Krebsdiagnose mitteilen. Die mit großem handwerklichem Geschick Augen- oder Herzoperationen durchführen. Die mit den richtigen Fragen herausfinden, ob ein Patient an einer Depression leidet, akut Burnout-gefährdet ist oder einfach nur einsam? 

Weder Abinoten noch Testergebnisse prüfen solche sozialen und psychologischen Fähigkeiten. Das sei auch gar nicht das Ziel, sagt Frank Wissing, Generalsekretär des Medizinischen Fakultätentags, der die Belange der 38 staatlichen Hochschulen vertritt, an denen Medizin angeboten wird. "Was einen wirklich guten Arzt ausmacht, ist nur schwer messbar. Die beste Evidenz haben wir immer noch für die Vorhersage des Studienerfolgs." Auch das sei ein wesentliches Kriterium für die Auswahl, schließlich koste ein Medizinstudienplatz bis zu 300.000 Euro.

Sicher bringt in Zeiten der Schulnoten-Inflation und angesichts von Abiturienten-Quoten von bis zu mehr als 50 Prozent eines Jahrgangs nicht jeder die intellektuellen und analytischen Fähigkeiten für den Arztberuf mit. Schulnoten und Testergebnisse bleiben ein sinnvolles Tool. Deshalb sind Vorschläge aus den Reihen der CSU, angesichts des angeblichen Ärztemangels den Numerus clausus komplett auszusetzen, purer Populismus.

Das Auswahlverfahren muss zwingend auch weiche Begabungen abklopfen

Doch auch eine Abiturientin mit Notenschnitt 2,0 kann eine hervorragende Internistin oder Psychiaterin werden, ich kenne sogar einen, der mit 3,5er-Schnitt  ein erfolgreicher Dermatologe wurde. Medizin ist keine Raketenwissenschaft.

Das Auswahlverfahren muss außerdem zwingend auch "weiche Begabungen" abklopfen. Schon ein Auswahlgespräch vermag intellektuelle Überflieger mit großen sozialen Defiziten auszusieben. Heute gibt es die Chance dazu nur noch an einer staatlichen Hochschule. Noch interessanter erscheint ein neu entwickeltes Auswahlverfahren, das bislang nur an der Uni Heidelberg angewandt wird und über das dort ein sehr kleiner Teil der Studienplätze vergeben wird. Die Bewerber begegnen in einem Parcours fünf Schauspieler-Patienten, die sie mit menschlich herausfordernden Situationen aus der Praxis konfrontieren. Solche Tests brauchen wir, und sie müssen ein erhebliches Gewicht neben Schulnoten oder herkömmlichen Eignungstests erhalten.

Die Gesundheitsversorgung steht vor gewaltigen Herausforderungen. Wir werden älter, wir werden kränker, wir werden pflegebedürftiger. Wir brauchen Ärztinnen und Ärzte, die dieser Aufgabe nicht nur intellektuell, sondern auch menschlich gewachsen sind.

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