Dissoziative Identitätsstörung: "Seitdem ich denken kann, weiß ich, dass da auch andere in mir drin existieren"
Viele Identitäten teilen sich einen Körper. Was nach Science Fiction klingt, ist für einige Menschen Realität, auch für die Bonnies. Sie leiden an einer "Dissoziativen Identitätsstörung". Uns haben vier von ihnen ihre Geschichte erzählt.
Wer kennt sie nicht, die inneren Stimmen, die sich vor allem vor wichtigen Entscheidungen gerne mal zu Wort melden – und so völlig gegensätzliche Ansichten vertreten. Wir alle haben verschiedene Persönlichkeitsanteile, die nicht immer an einem Strang ziehen. Was aber, wenn sich das Ganze nicht nur in unserem Kopf abspielt, sondern so ausgeprägt ist, dass wir aus mehreren ausgeprägten Persönlichkeiten bestehen? Dann sprechen wir von einer "Dissoziativen Identitätsstörung". Aber wie ist es eigentlich, Viele zu sein?
Die Bonnies wissen das sehr gut, sie haben eine "Dissoziative Identitätsstörung" und sprechen auf Social Media darüber, wie das ihr Leben prägt. Wie viele Personen die Bonnies sind, das wissen sie selbst nicht genau – immer wieder kommen neue Anteile zum Vorschein. Wirklich greifbar wird das Ganze aber erst, wenn man ein paar von ihnen kennenlernt, wenn man sie sprechen hört und sieht, dass da wirklich unterschiedliche Charaktere in einer Person leben. Uns haben vier der Bonnies exklusiv mit in ihre Gedankenwelt genommen. In den nächsten Tagen lernen wir Tessa, Isa, Fiona und 46 etwas besser kennen. Den Anfang macht Fiona.
Ich bin Fiona und Ende 20, also ein bisschen älter als der Körper, in dem ich lebe. Der ist 24 Jahre alt. Und das schon ziemlich lange. Wie das geht? Ich lebe mit einer "Dissoziativen Identitätsstörung" (DIS). Das heißt, ich teile mir meinem Körper mit vielen anderen Persönlichkeiten, früher hieß das multiple Persönlichkeitsstörung. Die Diagnose war für mich anfangs ein Angriff, ich fühlte mich auf die Krankheit reduziert. Ich nutze deshalb heute lieber den Begriff "Dissoziative Identitätsstruktur". Wir sind keine Krankheit, sondern Menschen und haben aufgrund von kranken Lebensumständen eine andere Persönlichkeitsstruktur als andere Menschen. Was die DIS zu einer Erkrankung macht, sind der Leidensdruck, die Einschränkungen und das Ausmaß, in dem sie unser Leben beeinflusst.
Für mich ist es sehr normal, Viele zu sein. Ich kenne es nicht anders. Seitdem ich denken kann, weiß ich, dass da auch andere in mir drin existieren, weil ich sie sehen kann. Ich habe aber nicht wirklich Kontakt zu ihnen. Dieses (oft) schwere Miteinander im Inneren, das nicht immer so harmonisch ist, wie man sich das vielleicht vorstellt, war für mich schon immer genauso relevant, wie all das, was in der Außenwelt passiert. Ganz egal, ob ich gerade innen oder vorne im Körper bin, beides gehört zu meinem Leben. Vorne sein, das bedeuret, ich bin die handelnde Person. Beides ist für mich real und kann gleich schmerzhaft sein. Ich mache da keinen Unterschied.
Ich denke, dass ich insgesamt mehr ertrage als andere von uns. Ich habe einen intensiven Zugang zu einigen unserer Traumata, was manchmal sehr schwer ist. Deshalb freue ich mich immer über die Zeit im Körper, weil ich dann neue Erfahrungen machen kann. Da sind dann auch mehr Gefühle als immer nur Trauma, Trauma, Trauma. Durch den Kontakt zu anderen Menschen bin ich nicht allein mit meinen Gedanken und kann mich mitteilen. Das genieße ich sehr.
Der erste Schritt zur Diagnose
Früher war ich hauptsächlich in Traumasituationen vorne. Ich gehöre zu den Anteilen, die sich an einen Teil der Traumata erinnern und in diesen Momenten häufig vorne waren. Und ich trage einen sehr großen Teil davon. Das überfordert manchmal, ich fühle mich damit auch gelegentlich echt allein.
Auf der anderen Seite habe ich durch dieses Bewusstsein viel Wissen über unsere Vergangenheit. Der Alltag hingegen existierte in meiner Erinnerung nie – diesen durfte ich erst viel später kennenlernen. Manchmal beneide ich die Alltagspersonen hier im Körper aber trotzdem, weil sie ihr Leben führen, ohne dass sie ein Bewusstsein für irgendwas haben, was uns in der Vergangenheit mal widerfahren ist. Sie wurden erschaffen, damit wir den Alltag bewältigen und sind deshalb von unseren Traumata abgeschnitten und denken teilweise immer noch, wir führen ein Leben ohne Gewalterfahrung. Sie haben sich das auch nicht selbst ausgesucht. Aber: Eine Zeit lang hat mich das regelrecht sauer gemacht.
Das war auch der Grund, warum ich irgendwann eine Nachricht an unsere Alltagspersonen in das Tagebuch geschrieben habe, die einige von ihnen aufgerüttelt hat und der erste Schritt Richtung Diagnosestellung war. Ich schrieb: "Wer nicht spricht, wird nicht gehört. Also schreie ich, weil ihr anderen schweigt. Euer Schweigen macht meine Vergangenheit nicht ungeschehen. Es bewirkt nur, dass ich im Gegensatz zu euch nie eine Zukunft haben werde. Ihr entscheidet: Euer Leben lang eure Illusion leben und dadurch zahlreiche andere von uns der Gewalt auszuliefern. Oder der Wahrheit ins Auge zu sehen und gemeinsam lernen, was leben wirklich bedeutet."
Man muss dazu wissen: Damals waren die Alltagspersonen komplett abgeschottet von allem im Inneren und den Traumata. Sie wussten gar nicht, was uns passiert ist und wollten davon auch erstmal nichts wissen. Und dann kam ich plötzlich auch in den Alltag. Das war eigentlich nicht meine Aufgabe, ich war schließlich dafür zuständig, das Trauma zu übernehmen. Aber ich habe dann angefangen, die Dinge aufzuschreiben und in die Therapie mitzunehmen. Dadurch mussten dann auch die Alltagspersonen irgendwann hingucken.
Wie geht Leben ohne Traum eigentlich?
Das Trauma ist aber auch heute noch meine Hauptaufgabe. Niemand von uns hat sich seine Aufgabe selbst ausgesucht, wir sind aus einem Überlebensmechanismus heraus entstanden und füllen diesen Zweck auf unterschiedliche Art und Weise aus. Und sowohl bei uns selbst als auch bei Außenstehenden ist noch immer zu wenig Bewusstsein darüber vorhanden, was einen Menschen zu vielen macht und was sich in uns abspielt. Wenn ich das Gefühl habe, wir werden im Außen nicht gesehen oder verstanden, ob beim Arzt, in der Therapie oder auch in Alltagssituationen mit Freunden oder Fremden, dann melde ich mich meistens zu Wort. Dann erkläre und benenne ich die Dinge, wie sie sind. Das habe ich mir auch so ein bisschen zur Aufgabe gemacht vor ein paar Jahren, als wir angefangen haben, hinzugucken, was da eigentlich mit uns los ist.
Die größte Herausforderung für mich war es dann, im Alltag klarzukommen. Ich habe bis vor ein paar Jahren ausschließlich Trauma gekannt. Als ich dann das erste Mal Sicherheit erlebt habe, wusste ich nicht einmal, wie man einen Wasserkocher bedient. Ich wusste nicht, dass man einkaufen geht und ich Freunde habe, geschweige denn, wie ich mit ihnen kommunizieren soll. Und ich merke immer noch oft: Eigentlich habe ich keine Ahnung, wie dieses Leben hier funktioniert. Ich lerne also jeden Tag aufs Neue, wie man lebt. Und ich durfte lernen, dass auch Menschen sicher sein können. Ich erinnere mich sehr gerne daran, wie ich unsere Freunde kennengelernt habe. An jedes einzelne erste Treffen. Das war für mich total irre, dass sich Nähe zu Menschen auch gut anfühlen kann.
Als wir noch der Gewalt ausgesetzt waren, habe ich immer versucht mich zu wehren. Geklappt hat es nie, es hat einige Täter nur noch mehr angestachelt. Versucht habe ich es trotzdem – für die Illusion der Selbstbestimmtheit. Heute bin ich einfach froh, dass die Vergangenheit Vergangenheit ist und genieße jede Minute im Körper. Meistens lebe ich einfach im Moment und freue mich, wenn ich meine Zeit mit lieben Menschen verbringen kann. Alles andere ist zweitrangig. Letztendlich sehne ich mich aber vor allem nach Ruhe und Frieden.
Von der Zukunft wünsche ich mir vor allem mehr Bewusstsein von uns und Außenstehenden. Und dass uns (und allen Betroffenen) mehr zugehört wird. Außerdem wäre es toll, wenn Traumata in der Gesellschaft kein Tabu-Thema mehr sind. Schlimme Dinge passieren jeden Tag und überall auf der Welt. Betroffenen ist nur geholfen, wenn hingeschaut wird. Ich denke mir immer, ich habe das nicht umsonst überlebt. Ich muss mit dieser Erfahrung irgendwas machen – und wenn ich uns nicht mehr heilen kann, dann möchte ich zumindest etwas für andere Betroffene tun.
Dieses Protokoll ist der erste Teil einer vierteiligen Serie zum Thema "Dissoziative Persönlichkeitsstörung". Wir finden: Um auch nur im Ansatz verstehen zu können, wie es sich anfühlt, "Viele" zu sein, sollte man mehr als nur einem der Persönlichkeitsanteile zuhören. Deshalb lassen wir vier der Bonnies zu Wort kommen – und uns von ihnen in ihre Welt mitnehmen. Im nächsten Teil lernen wir Isa kennen. Sie ist eine der Alltagspersonen – und war deshalb ziemlich überrascht, als sie erfahren hat, dass in ihrem Inneren noch so viel mehr ist, als ihre eigene Gedankenwelt.