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Wohnungskrise: In Amsterdam kostet ein WG-Zimmer 900 Euro – deshalb bauen diese Studenten lieber selbst

Stern 
Wohnungskrise: In Amsterdam kostet ein WG-Zimmer 900 Euro – deshalb bauen diese Studenten lieber selbst

Amsterdamer Studenten hatten die Nase voll davon, Wohnraum in der eigenen Heimatstadt nicht mehr bezahlen zu können. Also nahmen sie an einer Ausschreibung teil – und erhielten den Zuschlag, sich selbst ein Haus zu bauen. Ein Modell mit Zukunft?

Während man Ende der 1980er Jahre in einer Großstadt noch für 250 D-Mark eine Zwei-Zimmer-Wohnung und Anfang der 2000er Jahre für den gleichen Preis in Euro ein WG-Zimmer mieten konnte, müssen Studenten inzwischen deutlich mehr berappen. In Amsterdam sind die Preise für ein WG-Zimmer auf rund 900 Euro geklettert.

Zu viel für viele.

Als die Stadt 2020 eine Ausschreibung für Kooperativen veröffentlichte, auf die man sich um Grundstücke für ein eigenes Bauprojekt bewerben konnte, sprang eine Gruppe von Studenten an. "Wir waren 22, 23 Jahre alt", hat Iris Luden dem britischen "Guardian" gesagt. "Es war ein Traum. Wir haben angefangen herumzuspinnen. Wie wäre es, wenn wir uns etwas Eigenes bauen? Wir haben uns einen Kindergarten vorgestellt, unser eigenes Essen anzubauen ... Wir trafen uns jeden Monat, um darüber zu sprechen. Und dann ging es plötzlich voran." Amsterdam Parkplatz20.15

10 Prozent der Amsterdamer Wohnungsneubauten gehen an Kooperativen

Iris Luden, Ingenieurin für Künstliche Intelligenz, hatte das Glück, noch in ihrer alten Studentenbude wohnen bleiben zu können. Mittlerweile ist es in Amsterdam durchaus üblich, dass man sich jedes Jahr ein neues Zimmer suchen muss. "Es ist so übel, man kann nirgendwo bleiben", sagt sie. "Wir wollten etwas Bezahlbares – und eine Gemeinschaft." Hätte die Stadt nicht die Ausschreibung für 15 bis 20 Genossenschaftswohnungs-Projekte veröffentlicht, die binnen vier Jahren gebaut werden sollen, wäre aus der Spinnerei wohl nie etwas geworden. Doch die Stadt meint es ernst: 10 Prozent des neuen Wohnungsbestands soll Kooperativen gehören.

So nahmen die Visionen der Gruppe plötzlich Gestalt an. Sie gab sich den Namen De Torteltuin (Taubengarten), teilte sich in Untergruppen zu Themenschwerpunkten wie Finanzierung oder auch Nachhaltigkeit auf, ließ sich als Verein eintragen, schrieb einen Projektplan. Die Initiative suchte und fand ein Architektenteam mit Expertise für gemeinnützige Kooperationsprojekte, sammelte Geld und präsentierte den Entwurf: ein vier Stockwerke hohes, holzvertäfeltes Gebäudes mit 40 Wohneinheiten – darunter Einzimmerwohnungen, aber auch Unterkünfte mit Platz für drei. 

Entwurf des Hauses
Vier Stockwerke und 40 Wohneinheiten plante das Architektenbüro Natrufied Architecture für den Genossenschaftsbau von De Torteltuin. 30 Prozent Sozialwohnungen und sechs Wohnungen für Menschen in Schwierigkeiten sind vorgesehen. "Zum Beispiel Migranten mit Aufenthaltsgenehmigung, die noch kein Netzwerk haben. Das braucht man heutzutage, um in Amsterdam eine Wohnung zu bekommen", erklärt Jelle Don.
© Entwurf: Natrufied Architecture

De Torteltuin erhielt den Zuschlag und ein Grundstück, das nur 20 Minuten mit der Straßenbahn und 45 Minuten mit dem Rad vom Stadtzentrum entfernt liegt – in IJburg, einem vor mehr als 20 Jahren künstlich aufgeschütteten Baugebiet im südlichsten Teil des Binnensees IJmeer. Wieso das Vertrauen? Es mag daran gelegen haben, dass die Bewerber jung waren und ihnen zugetraut wurde, es mit dem Behördendschungel aus Regularien, Vorgaben und Bürokratie aufzunehmen, mutmaßt der heute 34-jährige Jelle Don im Interview mit dem stern.Notschlafstelle für Studenten

Die Architekten gaben Workshops, damit das Kollektiv bei Gestaltungsfragen fachkundig mitentscheiden konnte. "Wir wollten der Welt unsere Vision vorstellen und so hatten wir die Möglichkeit dazu", erklärt Jelle Don. "Mit Holz zu bauen ist wesentlich umweltfreundlicher als mit Beton, und Nachhaltigkeit ist uns sehr wichtig", so Don. "Die Außenvertäfelung besteht aus recyceltem Holz und ist daher farblich uneinheitlich, aber das soll man auch sehen. Es wird wie ein großes Mosaik." 

Das Geld für den Bau, der, wenn alles gut läuft, Ende 2024 beginnen und Mitte 2026 fertig sein soll, kam durch unterschiedliche Töpfe zusammen: Kredite von der Bank und der Stadt, Crowdfunding durch Freunde und Familien, dazu zwei Anleihen. 9 von den wohl benötigten 13 Millionen Euro hat die 26-köpfige Initiative bereits zusammen. Die meisten sind inzwischen mit ihrem Studium fertig, Don ist promoviert; nicht alle Gründer sind noch dabei, aber es wurden neue Interessierte aufgenommen, die idealerweise über eine gewisse Expertise verfügen, etwa ein Architekturstudium. Ob sie alle auch einziehen werden, ist noch nicht sicher. "Einer ist dabei, der macht mit, weil er es einfach interessant findet. Er wohnt sogar in Rotterdam und will dort auch bleiben."

9 Millionen Euro Schulden – bisher

Nun haben also 26 junge Menschen bislang 9 Millionen Euro Schulden. Wie fühlt sich das an? "Das ist nicht so einfach. Rein juristisch sind unsere Vorstandsmitglieder dafür verantwortlich und haftbar. Wir haben eine Versicherung abgeschlossen, müssen aber im schlimmsten Fall nachweisen, dass wir stets rationale Entscheidungen getroffen und genügend Sachkundige hinzugezogen haben. Wir müssen also alles sorgfältig dokumentieren. Aber die erste Unterschrift unter einen Kredit über 600.000 Euro von der Stadt zu setzen, hat sich schon komisch angefühlt." Alle weiteren Kredite werden erst bei Baustart ausgeschüttet, von der Stadt gibt es dann noch einmal 1,4 Millionen.

Das Gebäude wird Eigentum des Kollektivs sein, jeder Bewohner zahlt seine Miete. Ein Drittel der Wohnungen werden Sozialwohnungen, die teuerste Privatwohnung für eine Familie kostet monatlich 1200 Euro. Wenn alles gutgeht, ziehen die ersten Mieter Mitte 2026 in ein CO2-neutrales Gebäude mit Solarkollektoren auf dem Dach, Gemeinschaftsräumen auf jedem Stockwerk, Gästezimmern, einem Geräteschuppen sowie einem Musikstudio im Keller. Private Eigentümer soll es bewusst nicht geben, damit die Wohnungen auch in Zukunft bezahlbar bleiben. Der Genossenschaftsgedanke, den es auch in Deutschland gibt, geförderte gemeinnützige Projekte nicht schleichend in Privatbesitz zu verwandeln, könnte dem Amsterdamer Wohnungsmarkt wieder etwas Luft verschaffen.

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