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Haftbefehl: Festnahme bei Einreise? Das Netanjahu-Problem von Olaf Scholz

Stern 
Haftbefehl:  Festnahme bei Einreise? Das Netanjahu-Problem von Olaf Scholz

Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs will einen internationalen Haftbefehl gegen Israels Premier Benjamin Netanjahu erwirken. Für die Bundesregierung würde das zu einem großen Dilemma führen.

Karim Khan hat Deutschland in Schwierigkeiten gebracht. Der Brite ist Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und hat am Montag in dieser Funktion einen Antrag auf Haftbefehle gegen drei Hamas-Anführer sowie gegen Israelis Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Gallant gestellt. Den Hamas-Verantwortlichen wirft Khan vor, "die strafrechtliche Verantwortung für Mord, Vernichtung und Geiselnahme" im Zusammenhang mit den Anschlägen am 7. Oktober zu tragen, so heißt es in einer Erklärung des Chefanklägers. 

Netanjahu und sein Verteidigungsminister stünden im Verdacht, bei der folgenden Militäroffensive  "das Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegsführung" genutzt und "zusammen mit anderen Angriffen und kollektiven Bestrafungen gegen die Zivilbevölkerung in Gaza" damit ein Kriegsverbrechen begangen zu haben. 

Für die deutsche Regierung  und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lauert in dem Vorgang ein echtes Dilemma. Deutschland war immer einer der größten Unterstützer des Tribunals und ist einer seiner Hauptfinanziers. Allein 2023 zahlte Deutschland circa 20 Millionen Euro Beitrag. Nur Japan gibt noch mehr. Distanziert sich die Bundesregierung vom Chefankläger, schwächt es das ganze Gremium. Tut sie das nicht, rückt sie von ihrer bisherigen Position der uneingeschränkten Unterstützung für Israel ab.

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag
Der Internationale Strafgerichtshof im niederländischen Den Haag.
© Björn Trotzki

Das Auswärtige Amt versuchte am Montag, das Problem mit einer maximal diplomatischen Formulierung vorerst zu umgehen. Es ließ namenlos "einen Sprecher" erklären, durch die zeitgleiche Beantragung von Haftbefehlen gegen Israels Regierungschef Netanjahu und Verteidigungsminister Galant auf der einen sowie drei Hamas-Führer auf der anderen Seite sei "der unzutreffende Eindruck einer Gleichsetzung entstanden". In derselben Erklärung wird betont, Deutschland respektiere die Unabhängigkeit des Gerichts.

Rechtsexpertin sieht große Chancen für Haftbefehl

Doch damit ist das Dilemma nicht gelöst. Die drei Richterinnen der Vorverfahrenskammer des IStGH müssen nun darüber entscheiden, ob Haftbefehle erlassen werden. Das dürfte in den kommenden ein bis drei Monaten passieren.

Stefanie Bock, Professorin für Internationales Strafrecht an der Philipps-Universität Marburg, hält die Chancen von Karim Khan, dass seinen Anträgen stattgegeben wird, für groß. "Der Ankläger hat relativ starke Argumente, die auch die Kammer überzeugen könnten." Zumal für Haftbefehle nur ein hinreichender Tatverdacht vorliegen müsste, aber noch keine zwingenden Beweise.

Lässt die Vorverfahrenskammer die Anträge zu, hätte dies auch Folgen für die deutsch-israelischen Beziehungen. Zwar hat das Gericht selbst nicht die Möglichkeit, Haftbefehle zu vollstrecken. Wohl aber sind seine Vertragsstaaten verpflichtet, Beschuldigte festzunehmen und nach Den Haag zu überstellen – wenn sie ihr Staatsgebiet betreten sollten.

Beim Haftbefehl gegen Putin bezog Deutschland klar Position

Als der IStGH im Frühjahr 2023 einen internationalen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin erließ, versicherte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) umgehend öffentlich, man werde den russischen Präsidenten natürlich festnehmen, wenn er deutsches Territorium beträte.

Sollte Netanjahu nach Ausstellung eines Haftbefehls zum Staatsbesuch nach Deutschland kommen, müsste er also theoretisch auch hier festgenommen werden. Das würde Deutschland wohl niemals tun. Aber: "Es wäre eine Verletzung der Kooperationspflichten", konstatiert Stefanie Bock: "Dies könnte sowohl vor dem Gerichtshof selbst als auch in der Versammlung der Vertragsstaaten gerügt und – zumindest in der Theorie – vom Sicherheitsrat sanktioniert werden."

Noch gravierender aber wäre der politische Schaden: Mit dieser Weigerung würde Deutschland die Autorität des Gerichts derart untergraben, dass es vermutlich künftig keine größere Relevanz mehr hätte. Israel gehört wie die USA zu jenen Ländern, die den IStGH nie anerkannt haben. Im Gegensatz zu den Palästinensern.

Nicht ganz so heikel, aber auch schwierig, wären eventuelle Besuche deutscher Politiker in Israel. Theoretisch wäre dies weiter möglich: "Für Besuche in Israel würden keine Kooperationspflichten greifen", sagt Stefanie Bock. Allerdings würde dies Fragen nach der Doppelmoral deutscher Außenpolitik aufwerfen.

Volker Beck zweifelt an Zuständigkeit des Gerichtshofs

Aber ist der Internationale Strafgerichtshof überhaupt befugt, Anklage gegen Netanjahu zu erheben?

Volker Beck, Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, bezweifelt die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs. "Der Chefankläger versucht, sich über Artikel 17 des Rom-Statuts hinwegzusetzen", sagte Beck dem stern. In Artikel 17 ist geregelt, dass der IStGH nur dann zuständig ist, wenn der zuständige Staat "nicht willens oder nicht in der Lage" ist, "die Ermittlungen oder die Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen". Das könne kann man für Israel nicht sagen, sagt Beck: "Die israelische Justiz hat sich in der Vergangenheit nicht gescheut, auch Politiker und hochrangige Militärs anzuklagen."

Beck fordert die Bundesregierung deshalb auf, klar Position zu beziehen: "Deutschland muss jetzt klarmachen, dass der Antrag des Chefanklägers auf einen Haftbefehl gegen Netanjahu zu diesem Zeitpunkt rechtlich inakzeptabel ist. Niemand ist dafür besser geeignet als unsere Außenministerin; schließlich kommt sie aus dem Völkerrecht."

Rechtsexpertin Stefanie Bock kommt zu einer anderen Einschätzung. "Verfahren vor dem IStGH sind nur dann unzulässig, wenn ein Staat selbst ernsthafte Ermittlungen durchführt." So könnte Israel zwar einen Antrag in Den Haag einreichen, dass das Verfahren gegen Netanjahu zurückgestellt wird, müsste aber zeitgleich selbst ein Verfahren gegen den Premier einleiten. Das wäre in der derzeitigen Lage für Israel innen- wie außenpolitisch ein verheerendes Signal.

Für die Bundesregierung gibt es nur zwei Auswege

Auch das zweite oft vorgebrachte Argument gegen die Zulässigkeit der Anklage, dem zufolge die Palästinenser keinen eigenen Staat repräsentieren, ist laut Stefanie Bock falsch: "Die palästinensische Führung hat 2015 die Statuten des IStGH anerkannt. 2021 hat der Gerichtshof entschieden, dass die Palästinenser damit im Kreis der Vertragsstaaten aufgenommen sind und bei Verletzungen des Völkerrechts im Westjordanland und dem Gazastreifen wie ein Vertragsstaat behandelt werden."

In dieser verfahrenen Situation bleibt der Bundesregierung nur zwei Auswege: Dass es am Ende doch nicht zu einem Haftbefehl gegen Netanjahu kommt. Oder dass im Falle eines Haftbefehls Netanjahu nicht auf Idee käme, nach Deutschland zu reisen. 

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