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Ende der Präsenzkultur: Homeoffice – die beste Erfindung, seit es den Kapitalismus gibt

Stern 
Ende der Präsenzkultur: Homeoffice – die beste Erfindung, seit es den Kapitalismus gibt

Corona hat das Ende der Präsenzkultur in Deutschland erzwungen und dem Homeoffice Respekt verschafft. Zum Glück! Nun fordert mein stern-Kollege Leon Berent: "Alle zurück ins Büro". Eine Widerrede.

Als ich nach der Geburt meines ersten Kindes, wieder anfing zu arbeiten, bin ich zwei Mal in der Woche um 16 Uhr aus dem Büro gegangen. Nein. Ich bin herausgeschlichen. Es war mir peinlich, dass ich nicht – wie es ein ungeschriebenes Gesetz verlangte – bis um 19 Uhr in der Redaktion bleiben konnte. Mein schlechtes Gewissen wurde auch nicht durch die Tatsache gemildert, dass ich die flexiblen Arbeitszeiten mit meinen Ressortleitern vereinbart hatte und an beiden Tagen morgens früh anfing. Nur der Pförtner grüßte mich, wenn ich um acht Uhr in den Verlag kam. Aber was ist Arbeit wert, wenn es keine Zeugen für sie gibt? 

Mitarbeiter schenken ihrer Firma Stunden

Die Präsenzkultur hat uns alle verdorben. Führungskräfte und Beschäftigte. Wir verwechseln Anwesenheit mit Produktivität, endlose Meetings mit Kreativität und dumme Witze mit einer lockeren Arbeitsatmosphäre. 

Das einzig Positive an der Coronapandemie war, dass sie mit diesem Unfug Schluss gemacht hat. Der Lockdown zwang Millionen Menschen ins Homeoffice, und weder brach die Wirtschaft zusammen, noch sank die Leistungsbereitschaft. Laut einer US-Studie ersparte die Heimarbeit Beschäftigten im Durchschnitt 72 Minuten Pendelzeit. Und was haben die Menschen mit der gewonnenen Zeit getan? 40 Prozent (!) schenkten sie ihren Firmen und arbeiteten mehr Stunden. 34 Prozent nutzten sie für Freizeit, elf Prozent, um sich um Kinder und die Familie zu kümmern. Ein Gewinn für alle. Heimarbeit, lange belächelt und ein Karriere-Killer für junge Mütter und Väter, war plötzlich das neue Normal, selbst anspruchsvolle Tätigkeiten ließen sich remote bewältigen.Kommentar Homeoffice 9.20

Das Trauma der Manager: Der Laden läuft trotz Homeoffice

Womöglich war das eine eine traumatische Erfahrung für manchen Manager. Der Laden lief – auch ohne Statusgehabe, das wesentlich besser in Präsenz funktioniert als in einer Teams-Konferenz. SAP-Chef Christian Klein jedenfalls verschärfte in der vergangenen Woche den Ton gegenüber seinen über 100.000 Beschäftigten. An drei von fünf Tagen sollen sie wieder im Büro arbeiten. Dagegen ist auch gar nichts einzuwenden, die meisten Firmen haben inzwischen ähnliche Regelungen getroffen. Nur ein Mix aus remote und Präsenz schafft eine gute Unternehmenskultur. 

Allerdings stellt Klein eine absurde Verbindung her zwischen schlechter Feedback-Kultur, mangelnder Leistungsbereitschaft und Homeoffice. "Wenn sich alle nur gegenseitig auf die Schulter klopfen, bringt das niemanden weiter." Da hat er absolut recht. Kritik muss sein. Leistungsbereitschaft muss sein. Und manche Gespräche führt man sicher besser in Präsenz als im Teams-Call. Aber darum geht es Managern wie Klein gar nicht. Sie wollen das Homeoffice diskreditieren als eine irgendwie verweichlichte Form des Arbeitens. Eine Wohlfühl-Oase für Menschen, die keine Lust auf Leistung haben. Subtext: Echte High-Performer gehen ins Büro. 

Was für ein Unsinn. Millionen Menschen haben mit dem Homeoffice neue Wege beschritten und ein veraltetes Arbeitssystem, das noch aus dem 20. Jahrhundert stammt, fit gemacht für das 21. Jahrhundert. Statt stehenzubleiben und nostalgisch zurückzublicken, sollten Arbeitgeber zusammen mit ihren Beschäftigten auf diesem Weg weitergehen und ihn noch besser machen. Er führt in die Zukunft.

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