Sachsen & Thüringen: Von AfD-Veto bis Unregierbarkeit: Szenarien eines politischen Dramas

Stern 

Die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen könnten am Sonntag völlig neue Koalitionsmodelle, aber auch instabile Mehrheiten und Sperrminoritäten für Rechtsextremisten bringen. 

Noch nie gab es so viel Aufmerksamkeit für zwei Regionalwahlen. Nicht nur ganz Deutschland, sondern auch ein interessierter Teil der Weltöffentlichkeit schauen am Sonntag nach Sachsen und Thüringen. Denn es dürfte gleich mehrere politische Uraufführungen geben.

So steht mit der AfD erstmals seit 1945 eine teils rechtsextreme Partei davor, stärkste Fraktion in einem deutschen Parlament zu werden. In Thüringen, wo ihr Landesverband von Björn Höcke geführt wird, befindet sich die AfD unangefochten auf Umfrageplatz 1. Zwar dürfte im benachbarten Sachsen die CDU noch einmal die Spitze verteidigen. Aber es könnte dabei sehr knapp zugehen. 

Nun haben alle anderen Parteien ausgeschlossen, mit der AfD zu kooperieren. Doch auch wenn sie damit nicht vor einer Regierungsbeteiligung steht, könnte sie politische Gestaltungsmacht erlangen. Denn besetzte sie mehr als ein Drittel der Mandate, könnte sie in den Parlamenten alles blockieren, was eine Zweidrittelmehrheit benötigt, von Verfassungsänderungen bis zu Richterwahlen. Oder sie müsste eingebunden werden.

30: Wahlumfragen CDU in Sachsen vorn  AfD in Thüringen weiter stärkste Kraft - 1f460f423acdb03c

Eine ähnlich historische Zäsur ist der mutmaßliche Erfolg des Bündnis Sahra Wagenknecht. Eine Partei, die es vor einem Jahr noch nicht gab, dürfte mit zweistelligen Ergebnissen in beide Landtage einziehen und nach der Regierungsmacht greifen. Mindestens in Thüringen dürfte das BSW gebraucht werden, um eine Mehrheitsbildung zu ermöglichen. 

Doch was bedeutet das genau jeweils für Sachsen und Thüringen? Welche politischen Szenarien sind wahrscheinlich – und welche nicht?

In Sachsen hätte CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer laut der aktuellen Forsa-Umfrage im Auftrag des stern zwei Koalitionsoptionen. Er könnte wohl gemeinsam mit dem BSW eine Mehrheit bilden, wobei er notfalls noch die SPD hinzunehmen müsste. Oder er könnte die jetzige Kenia-Koalition mit SPD und Grünen fortsetzen. 

Kretschmer dürfte zwei Machtoptionen haben

Für ein Zusammengehen mit dem BSW spricht, dass Kretschmer die Grünen im Bund zum Hauptgegner erklärt hat und sich auch über die grünen Partner im Land verächtlich äußerte. Zudem kennt der Ministerpräsident die BSW-Landeschefin Sabine Zimmermann aus der gemeinsamen Zeit im Bundestag, wo sie lange als Abgeordnete saß. 

Trotzdem ist die Wagenknecht-Partei für Kretschmer schwerer zu kalkulieren, personell, aber auch inhaltlich. Mit SPD und Grünen funktionierte die Alltagsarbeit trotz allen öffentlichen Streits. 

So oder so ist in Sachsen die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die CDU auf Platz 1 landet und eine Mehrheitsregierung bilden kann. Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, führt eindrücklich Thüringen vor, wo eine nur unter akuten Schmerzen gebildete rot-rot-grüne Minderheitskoalition regiert. 

Solingen AfD Landtagswahlen 1500

Der zentrale Grund: AfD und Linke besetzen seit 2019 die Mehrheit der Parlamentssitze. Die vom einzigen linken Regierungschef Bodo Ramelow geführte Koalition mit SPD und Grünen hatte ihre Mehrheit verloren. Da niemand mit der AfD regieren wollte und darüber hinaus die CDU jede Zusammenarbeit mit der Linken ausschloss, kam es dank eines Abstimmungstricks der AfD zur Ministerpräsidentenwahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich und der nachfolgenden Regierungskrise. 

Nun, fast fünf Jahre später, könnte die unfreiwillige Blockade durch Linke und AfD aufgebrochen werden. Zwar ist die AfD auch in Thüringen stärker geworden und steht inzwischen bei 30 Prozent. Gleichzeitig ist jedoch die Linke wegen des BSW, das auf 18 Prozent emporgeschossen ist, vollends eingebrochen. Trotz des Amtsbonus des immer noch populären Ministerpräsidenten wird die Linke, die 2019 noch 31 Prozent erreichte, nur noch bei 14 Prozent gemessen. Während die SPD sich bei 7 Prozent hält, würden Grüne und FDP unter der 5-Prozent-Hürde landen und aus dem Landtag fliegen.

In Thüringen hätte die CDU den Regierungsauftrag

Weil mit der AfD weiterhin keine andere Partei reden will, läge der Auftrag zur Regierungsbildung bei der CDU, die laut Umfrage 22 Prozent erreicht. Zusammen mit dem BSW und der SPD käme sie auf einen Stimmenanteil von 46 Prozent. Da die 10 Prozent, die als Stimmen für Grüne, FDP und Kleinparteien abgegeben wurden, bei der Berechnung der Mandate nicht zählen, reichte dies für eine knappe Sitzmehrheit. Gleichzeitig würde die AfD haarscharf an der Sperrminorität vorbei schrammen. 

Doch Umfragen können irren, insbesondere in Ostdeutschland. Denkbar ist etwa, dass die Linke dank Ramelow noch einen Endspurt hinlegt und die AfD nach dem Terroranschlag von Solingen noch stärker als gedacht abschneidet. Dann stünde die CDU wieder vor der alten Frage, ob sie mit der Linken zusammenarbeitet, während alle gemeinsam darüber nachdenken müssten, wie mit einer Höcke-Partei mit Verfassungsveto umzugehen ist. Es droht die Unregierbarkeit – oder eine mehrjährige versteinerte Regierung Ramelow. 

Erster Test wird die Wahl des Landtagspräsidenten

Darüber hinaus haben die Beteiligten in Thüringen nicht viel Zeit. Der neue Landtag muss sich binnen 30 Tagen konstituieren und einen Präsidenten wählen. Der AfD stünde als stärkster Fraktion laut Geschäftsordnung das Vorschlagsrecht zu. Das heißt, nur sie könnte im ersten Wahlgang – und womöglich auch im zweiten Versuch – einen Kandidaten aufstellen. 

Falls dann kein Landtagspräsident gewählt ist, müsste der nächste Wahlgang geöffnet werden. Auch wenn es dafür keinen Präzedenzfall gibt: Dann gälte wohl nur noch das, was die Landesverfassung regelt. Das heißt: Das Parlament wählt „aus seiner Mitte“ (Artikel 57) einen Präsidenten, wobei alle Abgeordneten „nur ihrem Gewissen verpflichtet“ (Artikel 53) sind. Da die Verfassung keine präzise Vorgabe macht, reicht die einfache Mehrheit der Stimmen. 

Spitzenkandidaten Debatte ntv 18.57

Das heißt: Eine potenzielle Koalition müsste bereits vor der Konstituierung der Parlaments einen Konsens-Kandidaten verhandelt haben. Die Wahl des Landtagspräsidenten würde damit zur Initialzündung der künftigen Landesregierung. 

Aber es kann natürlich auch anders kommen. Die Wahl des Landtagspräsidenten ist ebenso geheim wie die womöglich spätere Wahl eines Ministerpräsidenten. Und spätestens seit Kemmerichs Interregnum weiß man: In Thüringen ist bekanntlich alles möglich.

Und falls dann jemand nach Neuwahlen ruft: Als geschäftsführender Ministerpräsident hätte Ramelow nicht mehr das Recht, die dafür nötige Vertrauensfrage zu stellen. Und die für eine Selbstauflösung des Parlaments nötige Zweidrittelmehrheit dürfte nicht bloß an Höckes AfD scheitern. Auch dafür hat Thüringen bereits 2021 ein schlechtes Beispiel geliefert.

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