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Luftfahrt: Emirates-Chef: Probleme bei Boeing "nur die Spitze des Eisbergs"

Stern 
Luftfahrt: Emirates-Chef: Probleme bei Boeing

Beim Flugzeugbauer Boeing reißen die Pannen nicht ab, nun sind bei einem erneuten Zwischenfall 50 Menschen verletzt worden. Emirates-Chef Tim Clark hält Boeing grundlegende Fehlentscheidungen vor.

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Mit weißem Haar sitzt Tim Clark in Anzug und Krawatte vor einem knallroten Emirates-Aufsteller am Kopfende einer langen Tafel. Der 74-jährige Brite ist seit 20 Jahren Präsident der staatlichen Airline des Emirats Dubai. Er hat die Hände auf dem Tisch gefaltet, vor ihm reihen sich Miniatur-Modelle der Flugzeuge Airbus A380 und Boeing 777 aneinander. Es sind die größten der Welt und essenzielle Bestandteile der Emirates-Flotte. 

Doch beim amerikanischen Flugzeugbauer Boeing wird die Mängelliste seit Monaten länger und länger. Erst heute sind auf einem Flug von Sydney nach Auckland offenbar 50 Menschen an Bord eines Boeing 787-9 Dreamliner verletzt worden. Wie die betroffene chilenische Fluggesellschaft Latam Airlines dem Sender Radio New Zealand sagte, habe ein "technisches Problem" eine heftige Turbulenz ausgelöst. Die meisten Passagiere seien nicht angeschnallt gewesen und einige, so berichten es Mitreisende, gar durch die Kabine geflogen. 

Die 787-9, ein neuerer Langstreckenflieger von Boeing, konnte sicher landen, die meisten wurden nur leicht verletzt. Doch eine Horrorstory ist das Ganze trotzdem – gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Probleme des Flugzeugbauers. Die Beinahe-Katastrophe im Januar, bei der kurz nach dem Start einer 737-Max ein Teil aus dem Rumpf einer Alaska-Airlines-Maschine herausgebrochen war, deckte die massiven Qualitätsmängel in der Produktion von Boeing schonungslos auf.

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Seitdem ermitteln in den USA mehrere Behörden, Boeing musste seine Produktion drosseln und wird nun von allen Seiten genau beobachtet, natürlich auch von den Fluggesellschaften. Für sie bedeutet das Ganze, dass sie noch länger auf ihre bestellten Flugzeuge warten müssen. Emirates-Chef Clark möchte seine Flugzeuge weiterhin haben, aber "auf die alte Art", wie er am Rande der Internationalen Tourismusbörse ITB in Berlin sagt. "Alt" heißt in dem Fall vor allem sicher. Er fordert Boeing auf, endlich die richtigen Prioritäten zu setzen.

Boeing für Clark auf dem Weg "in die richtige Richtung"

Clark kennt die Luftfahrtbranche so gut wie kaum ein anderer. Über einige Entwicklungen bei Boeing habe er sich in den vergangenen Jahren durchaus gewundert, sagt er in einer Runde von Pressevertretern in Berlin. Damit meint er etwa, dass Boeing seinen Hauptsitz vom Stammwerk in Seattle nach Chicago verlegte oder dass das neue Flugzeug 787 nicht in Seattle gebaut wird, sondern in South Carolina, wo die Gewerkschaften weniger stark sind. 

Außerdem baut Boeing die Rümpfe vieler Flugzeuge nicht mehr selbst, sondern der seit Langem ausgegliederte Zulieferer Spirit Aerosystems. "Das wäre so, als würden wir sagen: Wir überlassen unsere Technik und den Betrieb der Fluggesellschaft jemand anderem. Für unsere Denkweise ist das ein Tabu", sagt Clark. "Aber es ist genau das, was Boeing gemacht hat und ich glaube, es ist seitdem ein Problem für sie."

Wie der Luftfahrtexperte und langjährige Boeing-Sprecher Heinrich Großbongardt nach dem Zwischenfall im Januar für Capital einordnete, wurde die Trennung der Bereiche Finanzen und Technik bei Boeing in den vergangenen Jahren immer weiter aufgeweicht. Dadurch hätten immer weniger Ingenieure das Sagen gehabt. "Das hat zu vielen Fehlentscheidungen in der Produktion geführt und dazu, dass sich die Qualität über längere Zeit verschlechtert hat", sagt Großbongardt. "Jetzt versucht man, das Ganze zurückzudrehen, aber das ist ein langer Weg." Zumindest will Boeing Sprit Aerosystems nun wieder kaufen und den Rumpfbau damit zu sich zurückholen, für Clark "ein Schritt in die richtige Richtung".

Jahrelange Lieferverzögerungen bei neuen Flugzeugen

Von Spirit stammte auch der Rumpf der 737-Max, aus der im Januar das Teil herausgebrochen war. Die US-Unfallermittlungsbehörde NTSB fand heraus, dass an dem herausgerissenen Teil offenbar vier wichtige Bolzen fehlten. Die Luftfahrtbehörde FAA untersagte Boeing nach dem Zwischenfall, die Produktion der Max-Linie weiter auszubauen.

Dabei wollte Boeing das Tempo beim Bau seiner Max-Flugzeuge eigentlich erhöhen: zum einen, um zumindest etwas zum Konkurrenten Airbus aufzuschließen, zum anderen um seinen Cashflow zu sichern. Denn die Auslieferungen sind entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens – und hier hängt Boeing ganz schön hinterher. Die US-Fluggesellschaft Delta hatte im Juli 2022 den Kauf von 100 737-Max-10-Flugzeugen für rund 13,5 Mrd. Dollar angekündigt. Am Sonntag sagte Delta-Chef Ed Bastian in einem Interview mit der Agentur "Bloomberg", dass es nun sogar erst 2027 zur Auslieferung kommen könnte.

Die deutsche Airline Lufthansa hat ebenfalls ausstehende Bestellungen, Clark wartet für Emirates auf über 200 neue Flugzeuge. Lieferungen für den neuen Typ 777-9 sind bereits jetzt fünfeinhalb Jahre verspätet, aktueller Liefertermin ist der Oktober nächsten Jahres. Doch ob der eingehalten werden kann, steht bereits heute infrage. Grund sind die verschärften Sicherheitskontrollen und strafrechtlichen Untersuchungen bei Boeing.

Bisherige Probleme "nur die Spitze des Eisbergs"?

Die vielen Pannen bei Boeing zeigen, dass die Zahlen gerade ein nachrangiges Problem für den Flugzeugbauer sind. "Macht euch keine Sorgen um den Cashflow, die Bilanz, Dividenden oder Boni", appelliert Clark an Boeing. "Schaut einfach auf das, was der Betrieb tatsächlich produzieren kann. Nicht mehr und nicht weniger."  Boeing müsse jetzt herausfinden, was in den Werkshallen passiert, wieder für den richtigen "Spirit" sorgen und brauche "Leute, die die Ärmel hochkrempeln". "Wenn die FAA etwas findet, lässt das vermuten, dass es nur die Spitze des Eisbergs war", sagt Clark. "Deswegen müssen sie den ganzen Produktionsprozess schamlos auseinandernehmen. Ich glaube, alle wären froh, das zu sehen." Wie lange es dauere alle Mängel im Prozess zu beheben, hänge davon ab, welche Ressourcen Boeing nun investiere.

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Dass eine grundlegende Sanierung des Produktions- und Qualitätsprozesses notwendig scheint, zeigt die Vielzahl der Vorfälle rund um Boeing in den vergangenen Wochen. Erst am vergangenen Freitag verlor eine Boeing 777 von United Airlines nach dem Start in San Francisco ein Rad und musste gleich wieder in Los Angeles landen statt wie geplant nach Japan zu fliegen. Anfang des Jahres hatte eine Boeing 757 von Delta Air ebenfalls ein Rad verloren, schon kurz vor dem Start. 

Wie United nach dem Vorfall betonte, können Passagierflugzeuge auch mit fehlenden oder beschädigten Reifen landen. Eine Airbus-Maschine ist etwa vergangenen Monat ganz ohne Reifen gelandet. Da sich diese Pannen aber neben vielen anderen einreihen, unterstreicht es die Probleme von Boeing.

Vergleich nach Abstürzen könnte infrage stehen

Seit zwei Abstürzen der Boeing 737-Max 2018 und 2019 steht Boeing ohnehin unter strenger Aufsicht der FAA. Damals einigte man sich auf einen 2,5 Mrd. Dollar schweren Vergleich. Dieser sah unter anderem vor, dass Boeing keine rechtlichen Probleme bekommt und mit allen Behördenermittlungen kooperiert.

Anfang März hatte die FAA bekannt gegeben, dass sowohl bei der Produktion der 737-Max-Linie durch Boeing selbst als auch durch den wichtigen Zulieferer Spirit Aerosystems in mehreren Fällen mögliche Mängel in der Qualitätskontrolle aufgefallen sein sollen. Am Wochenende wurde außerdem bekannt, dass nun auch das US-Justizministerium ermittelt. Laut "Wall Street Journal" haben Ermittler Kontakt zu Passagieren, Piloten und Kabinenbesatzung der Alaska Airlines mit dem herausgebrochenen Rumpfteil aufgenommen. Das macht die Anleger offenbar nervös. Im vorbörslichen Handel an der Wall Street hat die Aktie des Flugzeugbauers am Montag gut zwei Prozent nachgegeben.

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Wenn das US-Justizministerium zu dem Schluss kommen sollte, dass Boeing gegen die Zusagen aus dem Vergleich nach den Abstürzen verstoßen hat, könnten damalige Vorwürfe zu falschen Angaben wieder im Raum stehen und die Aufsicht über den Konzern verlängert werden.

Emirates-Chef Clark glaubt aber, die Botschaft ist nach den vielen Berichten und Äußerungen bei Boeing angekommen. "Ich glaube, dass die nötigen Schritte unternommen werden und die ganze Sache zu retten ist", sagt er und hofft wohl auch einfach, dass es so ist. Immerhin braucht er die neue Boeing 777-9 genauso dringend wie Boeing selbst. Der A380 wird nicht ewig fliegen und Clark warnt seit Jahren eindringlich davor, dass die Sitzplätze in der Luft in Zukunft knapp werden könnten.

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